Zuerst las ich im Internet, Günter Grass habe ein Gedicht in der NY Times und anderen Medien veröffentlicht, in dem er Israel angreife. - Echt, dachte ich zunächst, der Mann schreibt richtige Gedichte? Wusste ich ja gar nicht. - Und dann tickerten die Meldungen wildgeworden nur so über meinen Bildschirm: Antisemit / Judenfeind / Schuldverrechnung des notorischen Rechthabers / SS-Verschweiger und und ... Erschlagend!
Eine Fürrede!
Ich bin nun kein besonderer Fan von Grass, war ich noch nie. Ich schätze ihn als Autor, insbesondere sein frühes Werk, aber der Mensch kommt mir persönlich seit vielen Jahren zu ichbezogen und seine Person selbst zu überhöhend daher. Vielleicht unfair und ein nur subjektiver Eindruck, aber so funktionieren wir nun einmal als Individuen.
Jetzt soll er also in einem Gedicht über Israel hergezogen haben, das den Weltfrieden bzgl. des Kriegsszenarios mit Iran gefährde, so dass dieser angesprochene Staat den Text freudig erregt lobt, während die übrige mediale Welt über den älteren Mann im Twitter-Takt nur so herfällt.

Analyse:
1) Upps, gar kein echtes Gedicht! - Das hätte mich zum Thema, dem Autor und der ganzen Aufregung auch sehr gewundert. Es ist ein stellungnehmender Text.
2) In dem Text finden sich keine überzeichnenden Worte, kein übertriebener Pathos, keine Beleidigungen oder Angriffe unter der Gürtellinie (bzw. allein der „Maulheld“ in Richtung des iranischen Präsidenten) und auch keine Unwahrheiten oder Unterstellungen gegenüber Israel.
Grass bringt einige aktuelle und durchaus allen bekannte Umstände der Region (es gibt noch so viele mehr) in Zusammenhang und möchte Stellung nehmend Aufmerksamkeit erreichen. – Aus Sorge. Alles andere wäre doch absurd und ohne Motiv; der Text wäre auch in anderen Worten abgefasst.
3) Die Gefahr der Antisemitismus-Unterstellung hat Grass wohl schon vorausgeahnt, denn er spricht es an und distanziert sich davon. – Auch vermutet er, dass dies einer der Gründe für das große Schweigen ist, womit er wohl meint, dass es (international) einem Tabubruch gleich kommt, gewisse Kritikpunkte zur israelischen Politik von sich zu geben.
4) Der Text ist in der Tat sehr ichbezogen formuliert und das Motiv des „Schweigens“ in verschiedenstem Kontext zumindest literarisch nicht so sehr glücklich eingesetzt. – Kann schon sein, dass Grass seine eigene Stimme etwas zu wichtig nimmt und das ganze gar wirklich als „Gedicht“ in die Welt setzen möchte, aber richtig und wichtig sind seine Worte dennoch. – Gleich wie man die Kunst darin beurteilen mag.

Und zweifelt jemand an der Entschlossenheit Israels in der Frage der umstrittenen iranischen Atomprojekte zu handeln, wenn man an diesen mysteriösen Hackerangriff letztens und ziemlich plötzlich zu Tode gekommene Wissenschaftler denkt? Hält hier irgendjemand den Mossad oder das israelische Militär für zimperlich?
6) Israel ist Atommacht! Niemand spricht darüber, dort nicht und auch nicht in den USA, von wo die Bombe ja aller Wahrscheinlichkeit gekommen sein muss. EIN TABU! Wie viele Sprengköpfe? Wie schwer etc. pp.? – Ist das vertrauenserweckend bei einem Staat, der – teils aus guten Gründen, teils ziemlich überzogen bis paranoid (Genau: ich finde, es darf auch einmal so genannt werden) – in Sachen Gewaltausübung nicht gerade zimperlich vorgeht?

Die Frage nach der Verantwortbarkeit, Israel ein solches Instrument in die Hand zu geben, könnte man hierzulande durchaus als einer Debatte wert ansehen. Vielleicht auch die Frage nach einer Verletzung des Geistes der Waffenexportbestimmungen, obwohl anzunehmen sein dürfte, dass es sich hierbei um ein solches Israel-Tabu handelt. – Nicht aus der Luft geholt, wenn man vermutet, dass Grass darauf abzielte.
7) Grass legt bewusst und natürlich aufgrund seiner Biographie und Lebenswerkes glaubhaft ein Bekenntnis der Verbundenheit mit Israel ab. Etwas anderes ist in dem Text nicht erkennbar!
8) Grass fordert die international unabhängige Kontrolle des israelischen Atompotentials in dem Maße wie die Weltgemeinschaft es zu Recht und im globalen Interesse von Iran, Nordkorea und anderen verlangt. Das ist nicht nur rechtens, sondern auch überdeutlich angebracht inmitten einer vom Wahn okkupierten Region, in der die Menschen dicht bei dicht verfeindet leben, wie es Günter Grass sehr treffend in wenige Worte gießt.
Will das jemand ernsthaft bestreiten oder wegpolemisieren?
Ich habe in dem Text gar einen echten Lieblingssatz entdeckt und eine Botschaft, die ich gerne verbreitet sehen würde. Eigentlich ist es nur ein Halbsatz und der lautet: „Es mögen sich viele vom Schweigen befreien“.
Ohne das überstrapazierte ‚Schweigemotiv‘ wären diese wichtigen Worte möglicherweise noch besser im Text platziert gewesen.
Ich jedenfalls, nur einfacher und unbedeutender Bürger und Mensch, bin dankbar für diese Wortmeldung eines fraglos Wortgewaltigen. Die Art der entstandenen Diskussion ist natürlich sehr enttäuschend, weil das Eigentliche unter die Räder kam. Ich hätte mir aufgrund von Ernsthaftigkeit und moralischer Autorität des Autors gewünscht, dass eine öffentliche Debatte entstanden wäre über z.B.:
· Das Liefern von High-Tech Waffensystemen nach Israel ohne gleichzeitige Transparenz und Garantien im Gegenzug.
· Den Umgang mit der offenen Kriegsdrohung durch Israel und indirekt auch durch die USA.
· Die Frage, wie unsere Gesellschaft in Zukunft oder ab heute mit den bisher tatsächlichen Tabus einer Kritik am Handeln des Staates Israel umgehen möchte.

Schlimm ist das! Und ich schäme mich als Bürger dafür, obwohl ich nix dafür kann und mich nicht beteiligte.
Das Folgewort von der „Gleichschaltung der Medien“ war als Bild im Interview mit Tom Burow gewiss nicht glücklich gewählt, denn es ermöglichte den schon im Rennen befindlichen Protagonisten, Grass als einen jetzt auch noch Verschwörung witternden Wirrkopf darzustellen und entsprechend zu titeln. Wie beschämend!
‚Gleichschaltung der Medien‘ ist natürlich ein Vergleich mit der Realität diverser totalitären Unrechtssysteme, welcher sofort an Nazis, SU oder DDR erinnert. Aber wie würdet Ihr euch fühlen, wenn ihr eine große Sorge ansprecht, dafür jedoch überwiegend absurd und wahrheitsverdrehend an den Pranger gestellt werdet? Das fändet ihr auch nicht witzig und noch trauriger wäre es um die nämliche Sache.

Die freien Medien – es gibt da in der Tat ja den „Presserat“ – sollten bzw. könnten über diesen Vorfall beraten, um zu klären wie es tatsächlich geschah, dass jemand so einhellig mit zudem brutalem Unwissen niedergemacht wurde, der Dinge schrieb, die sehr ernst aber in keinem Wort anstößig waren. Das Phänomen ist ebenfalls ernst und wir sollten uns alle Gedanken darum machen.
Ich halte es für ein Ausnahmethema, in dem unsere Medienlandschaft in der Tat dazu entgleist ist.
Lasst uns doch einfach mutig, ehrlich, offen und ohne Bedenkenfurcht jene Debatte führen, die Günter Grass eigentlich anregen möchte. – Ergebnisoffen und ohne bereits gefertigte Urteile. Das wär ein Ding!