Dienstag, 29. November 2011

Thema 9: Unsere Politiker zwischen Beruf und Berufung (KW 48 / 2011)



Dass das Politiker-Sein in unserem komplexen Gesellschaftssytem einen Fulltimejob mit sich bringt, ist unbestritten. Aber gibt es deshalb gleichwohl auch den Beruf des Politikers, wie ihn die meisten Parlamentarier für sich verstehen und auch bedenkenlos verbal transportieren? - Eine Quittung aus dem Volk.

Früher gab es die Berufsbezeichnung "Politiker" jedenfalls nicht. Ach was! Was heißt hier früher, noch vor vielleicht drei Jahrzehnten war das völlig unbekannt. Die meisten politisch öffentlich tätigen Menschen hatten einen richtigen Beruf, den sie häufig sogar neben dem Mandat noch konkret ausübten oder weiter verfolgten. Höchstens für ein gewähltes oder berufenes Amt ließ man das zeitweise ruhen.

Sicher, manchen Biografien war es beschieden, dass sie ihr ganzes tätiges Leben mit Aufgaben in der Politik verbrachten, häufig dann auch über jede Pensionsgrenze hinweg, und es war immer noch eine Sache der inneren Berufung - also der echten Überzeugung - und nicht eine des Berufs oder des persönlichen Profits. Vielleicht eine Angelegenheit von Geltungssucht, das kam vor, weil es nur menschlich ist, blieb aber doch eher die Ausnahme.

Die meisten Politiker schon ab der zweiten Reihe verbrachten eine Phase ihres Lebens im Politikbetrieb und gingen dann auch wieder zurück in ihr eigentliches Leben. Dort brachten sie die politische Erfahrung und häufig neues Engagement ein (der Jürgen Todenhöfer ist dafür ein freilich spätes Beispiel / nach der Politik Burda Vorstand und Afghanistan Engagement an der menschlichen Basis), so wie es zuvor umgekehrt der Fall gewesen ist. Kurzum - So ist es für eine demokratische Gesellschaft gesund: das Politische ist ein Dienst an der Allgemeinheit, bei dem man im Rahmen der politischen Orientierung für Werte, Überzeugungen und Positionen aktiv eintritt, um an der tätigen Stelle regierend oder opponierend zu gestalten.

Vergleichbar im Grunde mit dem Ehrenamt und freiwilligen Diensten, von denen in letzter Zeit so häufig die Rede ist (.. weil auch da der überzeugte Einsatz einer oft reinen Dienstleistungseinstellung weichen muss). Tantiemen für Mandate etc. waren nichts anderes als eine Aufwandsentschädigung für den Einsatz an Zeit und  - je höher es ging - für die gerechte Entschädigung gegenüber dem eigentlichen Beruf und Einkommen.

Heute und in unserer gegenwärtigen Zeit ist es so, dass selbst der Bürgermeister einer mittelgroßen Dorfgemeinde bereits kompletter Berufspolitiker ist und sich als solchem mitunter schon in jüngsten Jahren von vorne herein versteht bzw. sich auch nichts Unethisches oder Falsches an diesem Bild vorstellt. Kein Vorwurf an individueller Stelle, aber es ist aufs Ganze gesehen natürlich nicht mehr richtig und tut unserer Gesellschaft nicht gut.

Warum mögt Ihr fragen? Ich sag's Euch! - Weil der Berufspolitiker seine eigentliche Aufgabe als Dienst an der Gesellschaft mit der Zeit nicht mehr wahrnimmt, sondern diese Aufgabe eben funktionell als Beruf versteht und damit dann eher die eigene Karriere darin als das tatsächliche Gemeinwohl verfolgt.

Angefangen hat es sicherlich schon früher, aber so richtig bemerkt haben wir es dann erst irgendwann in den 80er Jahren. 1988 beschreibt Reimar Oltmanns den "neuen Effekt" sehr gut in seinem Buch "Möllemänner", in dem beispielhaft die Natur des politischen Aufstiegs sowie der Karriere von Jürgen Möllemann untersucht wird. Der Buchtitel geriet während der verbleibenden Kohl-Jahre für eine Weile zum geflügelten Wort. Aufgrund der späteren Brüche und dem schließlich tragischen Ende von Möllemann taugt der Begriff heute nicht mehr. Aktuell würde man da eher von den "Westerwelles & Röslers" sprechen.




Was einmal als Effekt begann, hat sich in den letzten 20 Jahres der ungebremsten Globalisierung und des zügellosen Finanzkapitalismus derart verselbständigt und die Tiefen des öffentlichen Lebens global durchdrungen, dass man sich über die Wertelosigkeit sowie die Verweigerung politischer Verantwortungen und Vorbildfunktionen beinahe nicht zu wundern braucht, da die Westerwelles und Röslers im Bedienen ihrer Klientelinteressen nur tun, "... was doch da draußen alle machen".

Ich tue es dennoch und wundere mich ein wenig. Es ist nämlich so, dass z.B. ein Rösler als Gesundheitsminister nicht einmal mehr versuchte, zu verbergen in wessen Auftrag er da eigentlich unterwegs war. Kleiner Tipp: Die Wähler und die Volksgesundheit waren es nicht. - Nein, der Mann bediente mit unfassbarer Dreistigkeit Lobby-Interessen verbal im Fernsehen sogar durch die Vordertür. - Und nichts passierte! Die Leute zuckten mit den Schultern, machten ihre Geldbeutel wieder etwas weiter auf und kramten nach bisher vielleicht übersehenen Euros.

Solcherlei politische Momente gibt es jetzt so viele, dass es längst nicht mehr der Sündenfall einzelner schwarzer Schafe ist, sondern ein fest installiertes Getriebe inmitten unseres politischen Systems. - Spontan erinnert man sich gerne an den mit Abstand wichtigsten Punkt der Koalitionsverhandlungen 2009, nämlich den ermäßigten Steuersatz für das Hotelfachgewerbe. Es kann nur ein Schelm sein, der Böses denkt bei der massiven Unterstützung dieses Gewerbes für eine politische Partei.

Dass diese Dinge geschehen ...? - Okay, wir wollen ja auch nicht naiv sein. Die menschliche Natur ist immer bis zu einem gewissen Grad schwach und von den verschiedensten Dingen verführbar gewesen. Keine Gesellschaft, kein Staat, kein wirtschaftliches, kulturelles oder politisches System könnte das ganz überwinden. Was ich zur Entwicklung in jüngster Zeit aber als bedenklich und sehr gefährlich empfinde, das ist, dass sogar jegliche Scham dazu jetzt mehr und mehr fallengelassen wird. Habe ich Erfolg als Politiker mit einer "Verarsche" auf Kosten der Gesellschaft, lasse ich mich dafür noch von derselben Öffentlichkeit als Politstar und von den Meinen als Held feiern. - Abgesehen davon, dass die soziale Schere bei anhaltendem Trend aufgrund der immer größeren Anzahl von Verlierern regelrecht aufgerissen werden wird, hält kein noch so gut konstruiertes Staats- und Gesellschaftwesen dies auf Dauer aus. Der Fisch fault und stinkt dann vom Kopf her.

Ein politisches System, dessen Handelnde soweit gekommen sind, dass politischer Betrieb und Staatsapparat dem ICH, seinen Interessen, seiner Karriere und seinen Zielen gefügig gemacht wird, ist dazu verurteilt, bei Überhandnahme zu scheitern. Die Geschichte lehrt: die eigentlichen Schadensstifter sind in einem solchen Augenblick längst auf und davon bzw. setzen aus der Ferne eine unschuldige Miene auf.

Vor über 20 Jahren diskutierte ich mit dem OB der Stadt, in der ich mit Unterbrechung heute wieder lebe, auf einem öffentlichen Podium über die Frage, ob die Politik und ihre Politiker sich die Schuhe für Missstände bis gesellschaftliche Schieflagen wohl anziehen müssen, ob ein OB hier auch persönlich in der Verantwortung sei. Der Mann lehnte das empört ab und erregte sich auf das allerheftigste. Man könnte es für einen Einzelfall halten, wenn man dazu erwähnt, dass dieser OB gerade mal ein  Jährchen später oder so das Kunststück fertig brachte, von der SPD zu den damaligen Republikanern zu mutieren.

Eben kein Einzelfall. Ich griff das Motiv in den folgenden Jahren immer wieder in Gesprächen und Kontakten mit Politikern (z.T. auch solche, die damals Spitzenpolitiker waren) verschiedenster Parteien von Grün bis CSU auf. Zugegeben, ich fragte und argumentierte ketzerisch, wie es sich für einen jungen Menschen wohl gehört, aber schließlich war es nur ein Einziger, der sich im Kontext seines politischen Mandats auch zu Dingen wie Folgeverantwortung und z.B. Vorbildfunktion bekannte. Das war der SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dressler (für den spätestens in der Schröder SPD kein Platz mehr war), dem ich das auch rückhaltlos abnehme.

Das Entwicklungsphänomen ist also nicht so neu. Nur hat es in früheren Jahren nicht den Gesellschaftsfrieden in der Weise bedroht, wie es heute zum Ernstfall geworden ist. Möglicherweise ist ein kleiner und zu lange wenig beachteter Konstruktionsfehler im politischen System die Ursache dafür. Es hat sich nämlich nach zwei Jahrzehnten BRD ziemlich klar herausgestellt, dass nur bestimmte Gruppen in den föderalen Politikszenarien weiter kommen konnten, als in den örtlichen Gemeinderat, denn die reale berufliche Existenz vertrug sich nicht mit dem Engagement.

Nach den sowieso politischen Existenzen der Gründerjahre bevölkerten sich unsere Parlamente nach und nach mit hauptsächlich solchen Berufsgruppen, die nach vielleicht nur einer Wahlperiode ohne Probleme wieder beruflich Fuß fassen konnten, also Lehrer, Unileute etc. und Selbständige der Kategorie Anwalt oder z.B. auch Ärzte. Keine Angestellten und Arbeiter. Auch bei den Beamten und Selbständigen keine Verwaltungsleute oder Handwerker etc. pp. Gewiss gibt es die Regel bestätigende Ausnahmen, aber im großen Querschnitt kommt dies für unseren Politikbetrieb seit den 70ern ungefähr so hin. - Das repräsentiert nicht wirklich die Bevölkerung und dieser Gründungsfehler besteht vielleicht darin, keine gesetzlichen Regelungen für eine sichere Rückkehr in das alte Berufsleben geschaffen zu haben. Das Risiko war für die Menschen einfach zu hoch. Eine deutlich weniger üppige Diätenausstattung während des Mandats, dafür aber die Sicherheit im ursprünglichen Beruf könnte ebenfalls ein sehr ordentliches Modell sein! Wenigstens für diejenigen Berufsstände, für die es eine existenzielle Rolle spielt. Oder eine Wahlmöglichkeit bei Mandatsantritt u.s.w.; es gäbe so viele vernünftige Modelle und Varianten.

So kam es dann wohl auch, dass mit der Zeit erst diese Berufspolitiker-Klasse entstand und dann sich der Verlust von Werten gegenüber der politischen Tätigkeit hinzu gesellte. Wegen der nur noch rein beruflichen Einstellung. Die Liste ist bekannt: Verantwortungsempfinden und Nachhaltigkeit gegenüber dem Gemeinwohl, öffentliche Ziele höher zu schätzen als die eigenen Privaten, Sacharbeit und Aufwand in auch Ungeliebtes zu investieren, Konsequenzen persönlich mitzutragen, durch Schwierigkeiten bzw. politische Unwetter zu gehen und sich den entsprechenden Schuh anzuziehen, und so weiter etc. pp. Auch der zweite Listenteil ist bekannt: es fehlt die politische Grundüberzeugung, die Vision, die Idee von dem, was man für Land und Gesellschaft erreichen möchte, es gibt unter den Politikern kaum noch echte Überzeugungen, kein konservativ oder progressiv, kein echtes Links oder Rechts. Schwarz, Rot, Gelb und sogar Grün sind nur noch Farbenspiele und keine gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu den Grundlagen mehr. Die Partei dient als reines Transportmittel für die Karriere, und genau so wird auch die Parteienentscheidung getroffen.

Die jüngste Mutation der Berufsspezies Politiker - und das sei hier nun auch der letzte anzusprechende Umstand - raubt einem ja fast den Verstand, so abstrus und absurd ist das. Die Masche der "Röslers" noch einmal beiseite drückend, kommen plötzlich auch noch so Typen wie der Guttenberg daher, die nicht nur wirklich nichts können, sondern von Natur aus doch bisher eher auf Boulevard Titelblättern neben Boris Becker und in Casting-Shows bis peinlichen Reality-Soaps beheimatet waren.


Der Typ sieht gut aus, ziert tatsächlich die einschlägigen Titelbilder, inszeniert sich als Schwiegermuttertraum, gibt sich smart, turnt durch einschlägige Shows und Foto-Shootings. Er glänzt im politischen Amt (Wirtschaft / Verteidigung) mit markigen, plakativen Sprüchen, die so aalglatt sind, als seien sie ebenso gegelt wie die stets fein fettig zurechtgemachten Haare des Herrn.

Wahnsinn: In Rekordzeit fragen die Medien "Kann Guttenberg (dieser Schönwetter-Liebling von uns  allen) auch Kanzler?" - Ja sind denn alle verrückt geworden!

Noch immer bin ich jeden Tag diesem Professor - der Name ist mir leider entfallen - dankbar, dem es offenbar ähnlich erging und der einfach mal die Promotion des neben dem Baron auch Doktor Guttenberg durch sein Prüfprogramm für Plagiate laufen ließ, das dabei wohl gleich mal so etwas wie einen Herzkasper erlitten hat. Die schnell ins Leben gerufene Internetplattform "Guttenplag" erledigte den Rest.

Unseren Helden aber - den aktuellen Adonis der deutschen Politik - focht das mitnichten an. Sollte es Fehler geben, würde man diese in einer nächsten Auflage (Verfassung und Verfassungsvertrag) korrigieren.

FEHLER?! - Das ganze Ding ist ein einziger geistiger Diebstahl bei anderen, die ihre Zeit und Einsichten in die eigene Arbeit investiert hatten. Nicht einmal ernsthaft umformuliert. Was nicht abgeschrieben war, hat er schließlich vom Wissenschaftsdienst des Bundestages füllen lassen. SELBST DER EINLEITUNGSTEXT IST PLAGIAT! So wurde mit noch einer satten Spende aus dem wohl nur mäßig begabten Studi ein Summa-cum-Laude-Doktor. Und der Mann stellt sich dazu ins Fernsehen und faselt von Familie, Beruf, Kindern und Mehrfachbelastungen.

Das ist an Dreistigkeit echt nicht mehr zu toppen! Einfach widerlich! Der spuckt auf Menschen, die das, was sie machen ernsthaft betreiben und gut machen wollen.

Gesellschaftsmehrheit, Politik, Kanzlerin, Uni u.s.w. Tut sich da jetzt bitte etwas? Leider totale Fehlanzeige! Wer will diesem tollen Star der Politik schon ans Bein pinkeln und am Ende evtl. doch nur der gescheiterte Königsmörder sein. So musste oder durfte der etwas Gestrauchelte eine Schamzeit nehmen, um neu erschaffen und strahlend wiederkehren zu können. Das ist es wohl, was wir gerade als vorzeitige Bescherung erleben. Gerade mal 7 - 8 Monate sind vergangen.

Auftritt als "anerkannter Staatsmann" in Kanada, Interview in der Zeit, Einstellung des Verfahrens, ein Buch. Seit gut einer Woche kein Tag mehr ohne Guttenberg-Nachricht. Gestern war es die Info, dass die Berliner Politiker Kollegen dumm seien (geschickte Nummer! Ehrlich). Heute fordert ein Spiegel Kolumnist nicht ganz ernst gemeint eine "Lichterkette für Guttenberg". Na klar, es gibt inmitten dieses Spaßbetriebes, der das Land halt gerne auch nebenbei regiert, noch ein paar Aufrechte.


Unterm Strich: Der Mann ist wieder da! Dabei hat er den Flieger übern Teich noch gar nicht bestiegen.


Zum Schluss noch einmal mit etwas angebrachtem Ernst: Ein Mensch, der bewusst und sehenden Auges in voller Absicht über etliche Jahre hinweg betrügt, um mit genau diesem Betrug letztlich seine politische Kompetenz und den analytischen Verstand nachweisen zu wollen, darf für unseren Staat jetzt und in Zukunft keine Verantwortung tragen! Spielt keine Rolle, dass der Mann vielleicht tatsächlich schlau, clever oder eloquent ist, ihm fehlen zum einen entscheidende charakterliche Merkmale für eine Tätigkeit zugunsten des Allgemeinwohls und zum anderen offensichtlich die Bereitschaft (oder Fähigkeit) zu harter inhaltlicher und sachlicher Arbeit.

Geben wir diesem Trend am Ende nach, dann ist unsere Politik endgültig nur noch eine Spielwiese, die man sich nach Maß zurecht kaufen kann. - Im Sinne der unleidlichen Rating Diskussionen (Bonität von Staatsanleihen) erreicht Deutschland dann auch alsbald diesen sogenannten Ramschstatus.

Guttenberg sollte sich - so er es denn braucht - in irgendeinem TV-Format und dem öffentlichen Jetset austoben, die Sorte Rösler müsste man mit vielleicht 1000 Sozialstunden belegen, um zu sehen, ob sich da erzieherisch was täte, und den Typ Westerwelle muss man leider heim zu Mutti schicken, denn die hat ja irgendwann wohl alles Mögliche falsch gemacht. Der Mensch kann nicht nur im Amt nix, er hat dazu auch keine Kinderstube.

Unser Gesellschaftssystem mit all seinen Gemeininteressen, unser Staat, unser Politikbetrieb, den wir uns geben und pflegen, das sind keine Gegenstände der öffentlichen Unterhaltung, sondern die essentielle Grundlage unseres gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Verlieren wir doch bitte nicht den Blick dafür und werfen es nicht einfach so weg!

Nachgedanke: Als ich 1991 an einer bayerischen Universität mit 3 weiteren KommilitonInnen zum Sprecherrat (das ist so etwas wie der AStA-Vorsitz in anderen Bundesländern, aber eingebunden in die Gremienlandschaft der Uni) gewählt wurde, gab es für diese Tätigkeit logischerweise auch eine kleine Aufwandsentschädigung. Solidarität und Tradition linker / progressiver Studivertreter sahen vor, dass solche Gelder natürlich zur Verfügung gestellt würden für Publikationen, Aktionen und gegebenenfalls Protest oder Unterstützungen, die sich nicht aus offiziellen Budgets von Fachschaften oder Sprecherrat bezahlen ließen. Nur logisch, wenige hatten ein Mandat, viele aber waren mit ihrem Engagement dabei. Soweit. Eine Dame aber unter uns outete sich im Amt plötzlich, dass sie mitnichten daran denke, das Geld zur Verfügung zu stellen. Von derselben linken Mehrheit nominiert und gewählt wie wir drei anderen, waren Politik und Amt plötzlich egal. Die Dame sah man im folgenden nur noch in der Sonne bei öffentlich-repräsentativen Anlässen (Minister, Einweihungen, Medien). Der riesige Berg an Arbeit ließ sie kalt. Die Studis, Bewegungen, Aktionen ebenfalls.

Ich dachte mir damals: Aha! Einer von vier Äpfeln ist offensichtlich faul. Es steht zu befürchten, dass diese freundliche Rechnung heute längst nicht mehr stimmt.

Sonntag, 20. November 2011

Thema 8: Gorleben – Zwischen Fronten und (vielleicht) späten Lügen (KW46 / 2011)


Aus Anlass der erneut tagesaktuellen Gorleben Diskussion und dem gerade neu gefassten weiteren Erkundungsbeschluss der Regierung plus einer Suche nach alternativen Standorten und Verfahren will ich hier den Versuch unternehmen, einmal eine ganz andere Art von Gorleben – Geschichte zu erzählen, welche sich dennoch inmitten der Materie bewegt.

Vorgeschichte

Im Bundeswahlkampf 2009 setzte sich der damalige Bundesumweltminister mit einer Antiatomkampagne überaus kämpferisch vom sonstigen Kuschelkurs der großen Koalition ab. Schon zuvor war er als Minister gerne mal inszenatorisch auffällig geworden. Mir ist das nicht wirklich sympathisch, weil es meistens ziemlich ich-verliebt daher kommt und Inhalten, Arbeit und der eigentlichen Sache oft nicht viel zu tun hat. Kann aber sein, dass das erfolgreiche Spiel eben so läuft, die Menschen reagieren auf so etwas. Ich will darüber nicht den Stab brechen.

Ich lebte zu jener Zeit in Südfrankreich und verfolgte den Wahlkampf also aus der Ferne und hauptsächlich über Internetmedien. Meine Aufmerksamkeit erregte Gabriel schließlich mit dem „Knüller“, dass er Beweise dafür besitze, dass die Regierung Kohl 1983 ein maßgebliches Gorleben Gutachten habe manipulieren lassen, um auf diese Weise mit der Salzstockerkundung fortfahren zu können. In der Originalversion des Berichtes wären Zweifel zur Eignung erhoben worden, die sich in der späteren Endversion und Entscheidungsgrundlage nicht mehr fänden. Dazwischen hätte es massiven Druck durch die Regierung gegeben.




Wammm! – Das schien wirklich eine mal Bombe zu sein. Man kann sagen, dass sich mein Puls etwas beschleunigte und ich begann gleich mal nach Hintergründen zu googlen. Es ist nämlich so, dass ich durchaus eine eigene Erinnerung an diesen speziellen Bericht habe, der im Leben meiner Familie eine gewisse Rolle spielte!

Was ich fand, das war vor allem der Artikel eines Mediums aus der Region Braunschweig, in dem der ehemalige PTB Mitarbeiter (Physikalisch-Technische-Bundesanstalt / erkläre ich später) Helmut Röthemeyer mit schweren Anschuldigungen gegen die damalige Bundesregierung dargestellt wird. – Leider kopierte ich den Text nicht und kann mich wegen der vielen recherchierten Seiten auch nicht an die Zeitung erinnern, denn heute ist auch bei intensiver Netzsuche nichts mehr davon zu finden.

„Hellhörig“ machten mich im besonderen die folgenden Aussagen:

Helmut Röthemeyer wird als Verfasser jenes Gorlebenberichts dargestellt.

Er berichtet von einem Treffen am 11. Mai (dieses Treffen ist heute zum Hauptgegenstand z.B. des Untersuchungsausschusses geworden / von den anderen Ereignissen ist nicht mehr die Rede), in dem er durch Vertreter von Innen- und Forschungsministerium – letzteres zuständig für die PTB – genötigt (heute ist immer von Weisung die Rede) worden sei, bestimmte Berichtsinhalte bzgl. möglicher Risiken der Salzstockeignung zu ändern bzw. auch keine Alternativen, sondern ausschließlich die Untertageerkundung zu empfehlen.

In den Folgetagen hätte es weiteren Druck z.B. mittels einem Telex gegeben. Röthemeyer bzw. der Artikel drückt aus, dass es sich dabei um die gravierendste Erfahrung seiner gesamten beruflichen Laufbahn gehandelt habe. Ferner schimmert ein gewisser Widerwille gegen das Gebaren der Politik durch.

Ich nahm also an, dass Gabriel diese Randnotiz aus dem April 2009 (es gibt noch einen taz Artikel aus diesem Monat / später im September aber wird nur noch ein viel milderes Interview zitiert, das Röthemeyer mit der Frankfurter Rundschau oder der Süddeutschen Zeitung führte / unterschiedliche Quellenangaben) aufgriff und sich im Ministerium die entsprechenden Dokumente beschaffte. Der Fall war nicht seine eigene Entdeckung, sondern er machte nur geschickt im Wahlkampf ein Politikum daraus. – Übrigens lässt sich deutlich nachzeichnen, wie für ihn diese Angelegenheit zum Sprungbrett an die Parteispitze wurde. Das macht ihn nicht gerade zu meinem liebsten SPD Vorsitzenden, obwohl ich deutliche Positionierungen auf echtem sozialdemokratischem Gesellschaftsboden sehr begrüße.

Ich stellte mir folgende Fragen:

Wie hätte dieser Mann, dessen Namen ich in meinem Gedächtnis nicht fand, der Verfasser jenes entscheidenden Gorlebenberichts von 1983 sein können?

Auf welche Weise kam der Vorfall am 11. Mai 1983 zustande, als Vertreter gleich mehrerer Ministerien in ein an sich normales Arbeitstreffen zu dem Bericht hineinplatzten? Illoyalität? – Besonders verwirrend: ich stellte fest, dass ich mich zumindest an die Existenz dieses Vorfalls erinnern konnte.

Wurde dieser Bericht als Grundlage für eine so wichtige politische Entscheidung der Bundesregierung tatsächlich durch die an ihm beteiligten Personen manipuliert? Wenn ja, wie konnte es sein, dass die das mitmachten?

Und am wichtigsten: War mein eigener Vater etwa an einem Vorgang beteiligt (bzw. im Strudel eines solchen), der die Öffentlichkeit und Gesellschaft bewusst über ein damals sehr zentrales Thema täuschte?

Genau!

Mein Vater war damals mittendrin in diesem Vorgang. Er war Geschäftsführer der DBE (Deutsche Gesellschaft für Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe mbH). Jenem Unternehmen also, das Ender der 70er Jahre durch den Bund eigens für den Zweck der Endlagererkundung und ggfs. Realisierung ins Leben gerufen wurde. Zuständig für die eigentlichen Erkundungsarbeiten und den Dingen, die sich unter der Erde abspielten. Er war dabei vom ersten Augenblick an und längst vor seinem Eintritt in die Gründung involviert.

Hier kommt – wenn ihr mögt – die etwas andere Geschichte zu diesem Gorleben-Bericht (und anderen Gorleben Befindlichkeiten) aus der Perspektive des Familienmitglieds eines beruflich Betroffenen.

Für eventuelle Inkorrektheiten bitte ich um Entschuldigung. Es sind subjektive Eindrücke, Erinnerungen und Gedächtnisfetzen.

Es muss so irgendwann 77 oder spätestens Anfang 78 gewesen sein, als ich bewusst das erste Mal von Gorleben hörte. Es gab damals tatsächlich so etwas wie eine Familienkonferenz (Novum!), in der unsere Eltern (mir und meinen beiden älteren Geschwistern) eröffneten, dass es für den Vater das Angebot oder die Möglichkeit gebe, bei einem ganz neuartigen Bergwerksprojekt bezüglich der Einlagerung von Atommüll mitzumachen. Zwei Aspekte wurden besonders betont: Erstens bedeutete dies einen Umzug nach Norddeutschland (wir lebten im Saarland in der Nähe von Saarbrücken, wo ich auch zur Schule ging) und zweitens sei dies für den „Papi“ sowohl von der Arbeit her eine Herausforderung als eine riesige Karrierechance mit mehr Geld und so.

Wir Kinder waren damals bei diesem Erstgespräch nicht dagegen. Meine Schwester hatte schon Abitur und begann gerade ein Studium an der Uni in SB. Umziehen müssen würden wohl nur mein Bruder und ich, aber auch das war ja noch in weiter Ferne.

Meine Eltern hatten sich im Vorfeld wohl überlegt, diese gravierende Veränderung nur weiter verfolgen zu wollen, wenn der Schritt auch mit der Familie zusammen funktionieren würde. Das muss man ihnen als Kind schon mal deutlich auf der Plusseite des Kontos anrechnen, denn damals war die Einbeziehung von Familienbefindlichkeiten bei der Karriere des Mannes nicht unbedingt üblich.

Ich realisierte es in der Folgezeit erst nach und nach, dass es da um den Chefsessel des Ganzen ging. Gorleben fing an in den Nachrichten aufzutauchen und mein Vater mittendrin.

Er kam aus dem Bergbau, dessen Umfeld irgendwo auch meine Kindheit im Rahmen der Bergbausiedlungen prägte, in denen ich aufwuchs. Mein Vater studierte während der 50er Jahre mit einem Stipendium in Nancy an der „Grand École de Mines“, der er bis zu seinem Tod in 2009 verbunden blieb. Anschließend arbeitete er als Ingenieur in verschiedenen Funktionen und Bergwerken für die Saarbergwerke (später Saarberg AG, heute in der Ruhrkohle AG bzw. RAG aufgegangen). 1972 übernahm er dort die Tiefbohrabteilung, welche nicht nur Untertagebohrungen, sondern auch für Drittkunden Erkundungsbohrungen durchführte. Diese Abteilung wurde 1975 wiederum ausgegründet in die Saarberg Interplan GmbH, in der verschiedene Aktivitäten mit Relevanz auch am Markt zusammengefasst wurden. Dort befasste man sich z.B. unter anderem mit der Erschließung von Uranvorkommen. Ich erinnere, dass mein Vater zunächst alles andere als begeistert war von dieser Konstruktion. Ich nehme an, es lag an der Vertrautheit und Sicherheit der Muttergesellschaft, denn aus heutiger Sicht war dies schon damals ein unternehmerisch moderner und richtiger Schritt, welcher Märkte und Bewegungsfreiheit öffnete.

Dann kam, was ich bereits schilderte. Es war dwohl er Mix aus der Laufbahn seiner beruflichen Tätigkeiten, die ihn zum Kandidaten für diese neue Unternehmung machte. Es waren zunächst wohl auch noch andere im Gespräch, aber vielleicht nicht solche mit seinem fachlichen Profil. Schon unter Tage war er in verschiedenen Bereichen des Streckenbaus tätig gewesen und dazu natürlich über die 70er Jahre hinweg zum Bohr- und Erkundungsspezialisten geworden.

Zur Person meines Vaters aber schon einmal vorweggenommen dies: Er bewegte sich gewiss sicher zwischen Steigern, Ingenieuren und Bergleuten, die mit ihm unter Tage fuhren; auch erfolgreich als Chef der Bohrleute und in Verhandlungen mit Kunden und Zulieferern etc., aber in der Welt von Managern und Politikern vermochte er sich letztlich nicht wirklich erfolgreich zu bewegen. Mehr noch, er verließ sie am Ende wohl extrem angewidert und mit einem Gefühl des Scheiterns, was ihn nicht unbedingt umgänglicher machte.

Gorleben wurde mir als Kind stark vereinfacht ungefähr so erklärt: Der radioaktive Müll aus Kernkraftwerken oder z.B. chemischer und pharmazeutischer Industrie sein nun einmal schon als Tatsache in der Welt und nicht rückgängig zu machen. Die einzige Möglichkeit, sich des strahlenden Mülls mit z.T. aberwitzigen Halbwertzeiten auf Dauer zu entledigen, sei es, diesen Müll endgültig aus dem Nuturkreislauf herauszunehmen, in dem weder Wasser, Luft, noch irgendetwas anderes in der Natur Zirkulierendes je wieder damit in Kontakt kommt. Das Steinsalz (z.B. in Gorleben) ist in den äußeren Schichten gesättigt (man kennt das vereinfacht aus der Chemie: max. gesättigte Salzlösung) und bildet so nach innen hin eine undurchdringliche Barriere.

Das verstand ich vom Prinzip her. Auch habe ich bis auf den heutigen Tag selbst im Kreise unversöhnlicher Endlagergegner kein stichhaltiges oder nachvollziehbares Argument gehört oder gelesen, das dies widerlegt hätte (in den 90er Jahren sorgten die Untertagebohrungen RB012 und RB014 für Aufsehen, weil damit Flüssigkeitseinbrüche einhergingen. Kein Wunder, wenn man den Mantel anbohrt, was wohl auch der Zweck gewesen muss. Die Aufregung war von Missverständnissen geprägt).

Das eigentliche Problem mit Gorleben war ein anderes: Wenn der Atommüll tatsächlich eine akzeptable Entsorgung erfährt, dann schafft dies auch so etwas wie die Rechtfertigung zum Ausbau der Atomenergie. Eine Crux, die zumindest mich in der Familie kritisch bleiben ließ, denn es ließ sich keine Antwort anbieten und auch zu den weiteren Risiken bekam ich durch die Fraktion der Atomkraftbefürworter (z.B. Mitarbeiter DBE, Freunde der Eltern) nie eine echte Antwort. Ob mein Vater allerdings die Atomenergie überhaupt als solche befürwortete, weiß ich bis heute nicht, denn das verriet er nicht. Auch eine Antwort, denn eigentlich war er ja ein Mann des Steinkohlebergbaus.

EINWURF: Heute in 2011 folgende hat sich dieser berühmte Gorleben-Widerspruch nach Fukushima vielleicht von selbst erledigt. Zumindest in Deutschland. – Die Kernenergie ist nicht sicher gegen Katastrophen, Kriege, Terror, Unfälle etc. Die Folgen sind ein jetzt leider vorstellbares Umweltdesaster. Diese Periode der Energiegewinnung wird beendet. Diverse sogenannte regenerative Alternativen stehen bereits zur Verfügung und werden endlich industriell und gesellschaftlich anerkannt in den kommenden Jahren noch einmal einen Schub erfahren.

So gesehen kann man sich Gorleben und weiteren Erkundungen jetzt eigentlich in gesellschaftlichem und politischem Frieden widmen, um dann mit dem letzten Castor/Müllfass eines Tages den Deckel über das Kapitel Atomkraft wirklich zuzumachen.

Wiederstand und Bewegung bildeten sich. Ich war zu jung, um daran teil zu haben, aber ich befand mich als Jugendlicher immer im Umfeld von Älteren (meine Schwester, Studis, mit denen ich mich verstand), deren Akzeptenz ich mit meinem Wesen, oder sagen wir einer gewissen Frühreife, fand und deren Themen mich beeinflussten. Gorleben als kritisch bis heuchlerisch empfundene Rechtfertigung zum weiteren Ausbau der Kernenergie war natürlich darunter. Ironischerweise bestätigten später die politisch-wirtschaftlichen Papiere genau diese Befürchtungen, z.B. die argumentative Schilderung 2009 der Empfehlungsüberlegungen in 1983 für Gorleben und der Suche nach weiteren Standorten.

Ich bin ehrlich. Während meine Eltern sich zunehmend auf die Veränderung vorbereiteten, erlebte ich eine „Null-Bock-Phase“. Ich fiel 1979 nicht überdeutlich, aber doch mit zwei 5en durch die 9. Klasse, obwohl dieses Null-Bock-Ding überhaupt nicht meiner Natur entsprach. Ich wollte nicht durchfallen, aber begriff pubertierend viel zu spät, dass es doch passieren würde. Meine Eltern nahmen es gelassen und mit erstaunlichem Desinteresse hin. Nicht schlimm und kein Problem hieß es. Aber man guckte auch nicht auf das folgende Jahr. Meine dolle Schülertheorie, dass das Wiederholungsjahr mir das Bestehen leicht machen würde, ging von Anfang an nicht auf. Ich war gefangen im inneren Widerstand und den Kriterien des Umfeldes, in dem ich mich alles in allem befand. Minigolf hier, Weltrevolution dort. Nichts korrigierte und leitete mich. Ich wäre in der Schule evtl. wieder gescheitert, aber meine Mutter machte wohl einen Versetzungsdeal aus, wenn ich nach Niedersachsen weggehen würde. So renitent oder widerspenstig war ich schon damals.

Es stellte sich zudem 79/80 heraus, dass ich in der Familie der einzig Betroffene sein würde, der aus allem herausgerissen wird. Meine Schwester studierte und war über ihren frz. Freund heftig mittendrin in der politisch und kulturell linken Szene der Stadt, mein Bruder würde die neuartige FOS besuchen und mit 18 schon eine eigene Wohnung haben.  Ich war der einzige, der in diese fremde ungewollte Welt mitgehen sollte. Ich sperrte mich.

Der Vater war dann seit dem Herbst 79 komplett in Norddeutschland involviert und nahm sich eine kleine Wohnung hin und her. Nur Wochenends noch zu Hause. Am Empfang seines neuen Dienstwagens im Dezember 79, einem metallic-grünen Citroen CX 2.4 GTI, von einem Händler in Saarbrücken ließ er mich in besonderer Weise wohl teilhaben, weil schon klar war, dass das Gorleben Projekt für die Familie allein an meinem Mitmachen hing. Nur wusste ich das nicht. Etwas persönliche Erklärung hätte geholfen.

Meine Eltern mussten auch erst einmal umgehen lernen mit dem neuen Entwicklungssprung.

Der Familienumzug fand im August 1980 statt. Wir zogen zunächst oben in das Fachwerkehaus einer Schaustellefamilie und später – Anfang 1982 – in so eine Art Einfamilienbungalow, der kein Obergeschoß hatte. Beides in Vororten der Kleinstadt Peine, wo die DBE ihren Sitz hatte und auch meine neue Schule lag.

1980 war auch das Jahr, in dem das Thema Gorleben so richtig hochkochte. Auf dem Gelände der Bohrung 1004 (ß komische Bezeichnung) entstand im Mai die freie Republik Wendland als Besetzerdorf, die große mediale Aufmerksamkeit erregte und Anfang Juni zwar aufwendig (Sitzblockade, Hütten, Türme etc.), aber entgegen befürchteter bis öffentlich heraufbeschworener Ängste friedlich geräumt wurde.

Die Bilder mit Gerhard Schröder (damals Juso-Chef) und anderen Promis sind vielleicht einigen noch in Erinnerung. Selbst bin ich der Meinung, dass es in Deutschland vielleicht niemals einen fröhlicheren, produktiveren und künstlerischen Ausdruck von sogenannter Gegenkultur gegeben hat, als diese Freie Republik Wendland. Kunst, Theater, Musik, gespieltes Staatswesen, Versammlung und vor allem Inhalte und Ziele. Die alten Bilder kommen ein bisschen daher wie Woodstock, aber ich denke, es war – obwohl kein Film und keine Platte existiert – irgendwo viel mehr als das. Es war vielleicht so eine Art soziokulturell-politisch-fröhliches-Späthippieereignes.

Später habe ich ca. Ende August oder September mit meinen Eltern eine solche Bohrstelle besucht. Es müsste 2005 gewesen sein. Mein Vater zeigte mir auf Nachfrage im Dickicht von Wald, Rodung und Wegen die Richtung der Republik Wendland, aber darüber wollte er nicht groß reden. Ich meine auch mitbekommen zu haben, dass mit der Bohrung 1004 dann ergebnismäßig nicht viel los war.

Der Ausdruck Bohrstelle kommt nicht ganz hin; Festung oder „Klein DDR“ trifft es eher! – Botonmauer aus Platte mit Türmen und Wasserwerfern drum herum. Außerdem gerodete Ödnis auf hundert Meter oder mehr im Umkreis, damit man eventuelle Angreifer aus dem Wald kommen sah (also, falls „Badewannen“ und solches Zeug über die Mauer geschmissen wurden / die Badewanne wurde tatsächlich als Beweisstück zur Notwendigkeit der Sicherheitsmaßnahmen gezeigt; ich sah sie). Innen so etwas wie eine kleine Kaserne mit Zelten und schwerem militärartigem Gerät, das ich auf einer Bohrstelle sowieso noch nie sah. Natürlich ein schweres Eisentor und bewaffnete Kontrolle. Die eigentliche Bohranlage war nichts Besonderes und im Drumherum des Lagers winzig klein. Ich kannte mich etwas aus, weil ich die Sommerferien über in der ehemaligen Bohrfirma meines Vaters gejobbt hatte. Hier wurde eigentlich nicht so tief und kompliziert gebohrt. Die ausführende Firma war die Preussag AG. Ich erinnere mich, dass ich dachte, diese Sache hätte doch auch „unsere Firma“ machen können. – Kurz, alles hier war ein verwobenes Politikum. Die Preussag z.B. hing wohl an der Salzgitter AG (Stahl etc.), welche zusammen mit der Ruhrkohle, Kraftwerksbetreibern, Energiekonzernen etc. tief in der ganzen Gemengelage rund um die DBE mit drinnen hingen bzw. damit, wer welchen der Ihren im Rennen hatte – Beeindruckend fand ich das Areal der Geologen mit den sorgsam aufgereihten Bohrkernen. Dazu ein regelrechtes Feldlabor zur Untersuchung. Das hatte ich auf noch keiner Bohrstelle so gesehen. Viel später, erst vor ein paar Jahren, erfuhr ich von meinem Vater, dass er diese Geologen für Scharlatane hielt.

Schade, dass sich nicht mehr klären lässt warum. Der aktuellen Gorleben Diskussion würde das ganz sicher nützen, denn es geht sehr stark um geologische Argumente. – Ich sage das aus dem Erleben heraus mit einem Mann, der sein ganzes Leben im Gestein und dem Umgehen damit bzw. seinen Gefahren verbracht hat. Ich sage das als jemand, der gerade dem Vater immer kritisch auch gegenüberstand, aber aus der Erfahrung heraus glaubt, dass dieser niemals Risiken heruntergespielt hätte. Dafür war er viel zu sehr Bergmann.

Später nach "Wendland", also im Grunde sehr bald schon beruhigte sich vieles. Nach den Bohrungen gab es das Gelände für die geplanten Anlagen und natürlich auch die Bürgerinitiativen, Bewegungen vor Ort etc., aber der große Hype war erst einmal vorbei. Viele Menschen wendeten sich in den 2-3 Folgejahren dem Thema Frieden (die großen Demos und Sternmärsche, Krefelder Appell, Menschenketten etc.) und der Eskalation zwischen Ost und West nach dem Nato-Doppelbeschluss zu. Das heißt nicht, dass Gorleben nur eine Mode gewesen wäre, aber in einer so großen Gesellschaft tickt das mit der Aufmerksamkeit nun einmal so.


Mein Vater – ich weiß nicht, ob es wirklich so stimmt – nahm einmal für sich in Anspruch die sogenannten Gorleben-Hearings (eine Frühform des „runden Tisches“) ins Leben gerufen zu haben, welche damals in der Tat viel Zündstoff herausgenommen haben, denn die Gegner konnten mit den Machern diskutieren.

Was er auf jeden Fall aber getan hat, das war diese Einheiten der Bundespolizei von dem Gelände schließlich zu entfernen, in dem schlicht eine einfache Wachgesellschaft für deren Aufgaben engagiert wurde. Ganz schön cool war das! Bis zum Ende seiner Zuständigkeit ist nie wieder etwas dort passiert.



In den 6 Jahren Peine sind meine Eltern niemals wirklich in Norddeutschland angekommen. Sie fühlten sich mit der Mentalität der Menschen dort nicht wohl und es ist in diesen Jahren wohl auch zu viel Belastendes passiert. – Sie waren später froh, das Haus im Saarland nicht verkauft zu haben, worauf meine Mutter wohl bestanden hatte.

Ganz anders ist es mir ergangen. Im Ankommen wie es sich für einen Teenager gehört zunächst sehr widerstrebend, wurden es dann aber rasch überaus prägende und z.T. sehr wilde Jahre, wie man sich das heute bei unseren eigenen Kindern gar nicht mehr so vorstellen kann bzw. die ganze Umwelt natürlich auch eine andere ist. – Ich habe inzwischen an etlichen Orten Deutschlands gelebt und empfinde die gesellschaftliche Gemengelage „dort oben“ noch immer als meine positivste deutsche Erfahrung inkl. dem Ursprung im Saarland.

Die DBE firmierte damals (heute ist im Internet ein schicker Neubaukomplex zu sehen) in einem alten, umgebauten Gebäude der Peine-Salzgitter AG (Stahlwerke etc.). Ihr könnt Euch das heute sicher nicht vorstellen, aber die Sicherheitsneurosen waren damals zum Thema Gorleben unfassbar extrem, was mit der Ost-West-Kälte zusammengehängt haben mochte, aber auch mit dem noch immer präsenten Thema RAF. Die Firma, mein Vater, seine Vorstandskollegen galten als mögliches Terrorziel. „Umgebaut“ heißt also kugel- und angriffssicher. Nicht nur, dass die Fenster und alles kugelsicher waren, man kam auch nur über eine hermetisch und bombensicher abgeriegelte Schleuse in das Gebäude hinein. Darin lieferte ich mir als Sohn des Chefs mehr als nur ein freches Wortgefecht.

Ich kannte einige Mitarbeiter. Über Familienkanäle, öffentliche Gelegenheiten, zu denen man mitmusste, auch solche, die der Vater aus dem Saarland mitgebracht hatte und mich z.B. bei Heimfahrten auch einmal mitnahmen. Der für Versicherungen und Rechtsdinge zuständige Mensch versicherte mein Moped ziemlich preisgünstig und war irgendwie mit dem jetzigen Papst verwandt, wenn ich nicht ganz irre. Ich besuchte ihn aufgrund verschiedener Umstände öfter. Ein netter Mensch.

So sicher die Firma auch war, so normal war wiederum z.B. das Auto von meinem Vater (jener Citroen, alle anderen hatten natürlich einen dicken Daimler) und auch unsere Wohnung. Das hielt den lieben Staat aber nicht davon ab, in der Anfangszeit zwei Beamte ganz unauffällig in einem Fahrzeug vor dem Haus einzusetzen. Die sind einem dann schon einmal in die Schule oder bei der ein oder anderen Unternehmung gefolgt. Sehr witzig und ganz bestimmt sicherheitsrelevant. Als es im Herbst kälter wurde, brachte ich einmal einen Pot Kaffee raus und lud süffisant zu Gebäck ein. Na ja, da waren diese Menschen halt humorlos oder an ihre Dienstanweisung gebunden.

Mein Vater wurde mehrfach auf Aktivitäten von mir angesprochen oder mit entsprechenden Berichten beglückt, die sich mit familiären Widersprüchen befassten. Kontakte, Demos, Ostberlin, Kommunisten, alles Mögliche. Darauf reagierte er gelassen und schränkte mich auch nicht ein. Ich wünschte, es wäre so auch um unser inneres Verhältnis bestellt gewesen.

1981 wurde der 50ste Geburtstag des Vaters zum Anlass für ein öffentliches PR Ereignis genommen. Die DBE war soweit gewissermaßen aus dem geheimen Schatten des Gorleben – Geschehens herauszutreten und in Grenzen bekannt gemacht zu werden, obwohl es bis auf den heutigen Tag hier eine gewisse Zurückhaltung zu geben scheint. Wirtschaftsgäste, Vertreter der Bundesregierung, Glückwunschtelegramme und Laudationen, familiäre Gratulationsreihe, das ganze Programm eben. – DAS PROBLEM DABEI: ICH! Konnte ich mich benehmen? Wäre ich vorzeigbar? Würde es einen Eklat geben? Mein Vater bekam tatsächlich im Vorfeld Druck gemacht wegen mir und er und ich Streit darüber. Ich hätte ja ganz wegbleiben können, aber das ging offensichtlich auch nicht, weil die Familie zu dem PR Ding gehörte. Ich entschied mich bewusst für Jeans, Lederjacke bzw. auch gegen den geforderten Haarschnitt, benahm mich auf der Veranstaltung aber ausgesucht höflich. Aus meiner Sicht noch heute richtig, denn ich war die Person, die ich nun einmal war und keine Marionette.

Später an diesem Tag machte mich zu Hause ein lebenslanger Förderer und Freund meines Vaters, den er rückhaltlos bewunderte, genau deswegen auf das Übelste an. Wir wurden in der Einordnung dieses Menschen nie wieder einer Meinung.

In dem gerade zurückliegenden Untersuchungsausschuss (2010) wurde kritisch viel über die damals nach den Bohrungen 1982 erfolgte vorläufige „Rahmenbetriebserlaubnis“ nach altem Bergrecht gesprochen, also dem Recht, bei dem es in erster Linie um die Erkundung von Rohstoffen geht. Das sei im Fall von Gorleben ja nicht der Fall gewesen und damit schon einmal nicht rechtens. – Ich erinnere mich an die Situation dieser „Betriebserlaubnis“. Das ging definitiv auf meinen Vater zurück und war nichts anderes als ein Rechtskniff, um zunächst überhaupt weiter machen zu können (mit dem aktuellen Bergrecht, das allerdings nichts mit Gorleben zu tun hatte, ging das nicht, was ich hier leider ohne Recherche nicht erklären kann). Er wusste dies und plante es zu korrigieren, sobald die Möglichkeit dazu bestehen würde. Er sah sich in der Verantwortung die Erkundung weiterzuführen. Das war und ist kein Gorleben-Rechtsskandal, so wie es teilweise dargestellt wird. Richtig oder falsch, so nahm ich es zu Hause war und habe – kritisch wie ich bin – in den vergangenen 30 Jahren keinen Grund gefunden etwas anderes anzunehmen.

Der Regierungswechsel im Herbst 1982 brachte eine komplette Zäsur. Mein Eindruck noch heute ist, dass von da an für meinen Vater alles mehr oder weniger schief lief und sich auch für alle übrigen Beteiligten (Geologen, PTB etc.) wohl einiges änderte. Er zumindest konnte nicht gut mit den neuen Beamten (Partnern) aus Bonn und meine Vermutung ist, dass alles noch einmal mühsam von vorn erklärt werden musste bzw. immer auch die Unterstellung im Spiel war eigentlich für die Vorgängerregierung loyal tätig zu sein. Mit diesem neuen Umstand kam mein Vater nicht wirklich gut zurecht und machte sich wahrscheinlich nicht mehr viele berufliche Freunde.

Der geplante Erkundungsbericht bekam nun 1983 eine ganz neue Bedeutung und wurde regelrecht existenzentscheidend. Er war zu Hause monatelang ein Thema, was nach der deutlichen Bestätigung von Schwarz-Gelb im März 83 noch einmal eine besondere Rolle spielte. - Für die DBE und auch familiär hing alles an diesem Bericht. Die Politik würde anhand dessen entscheiden, ob es nach den Erkundungsbohrungen mit einer Schachtabtäufung weitergehen würde oder nicht. Und dazu war da auch noch der Punkt sehr offen, ob es dann überhaupt mit meinem Vater verantwortlich weitergehen würde oder eben auch nicht. Die Nervosität war sehr groß, ... und als ein überlebensgroßer "Atomkraft-Nein-Danke-Aufkleber" auf einen VW Bus kam, den ich in unserer Garage mit Freunden für einen Urlaub zusammenschraubte, fühlte mein Vater sich provoziert. Ich kann das aus heutiger Sicht verstehen, aber es hatte mit seiner Situation nichts zu tun, sondern war nur die Aktion, die ein Freund von mir für witzig hielt. Anders verhielt es sich mit dem Biemannsong "Gorleben soll leben"; den brauchte man nur laut abzuspielen, um den Vater auf die Palme zu bringen. Wie Kids eben so sind, passierte das schon hin und wieder einmal ...

Meine Erinnerung besagt, dass der Bericht irgendwann wohl im Juni 83 von der Politik ein "Go" bekam, was gefeiert wurde. Von dem Vater sind regelrecht Bauklötze herunter gefallen. Ich sah ihn selten so erleichtert und gelöst. - Seine persönlichen Probleme mit Beteiligten aus Aufsichtsrat und Politik löste es aber nur teilweise. Irgendwann im Spätsommer 83 gab es einen Vertragsdeal über weitere 2,5 Jahre mit anschließender Rückkehr zur Saarberg AG bis zur Pensionsuntergrenze. Diese Möglichkeit hatte er sich schon bei seinem Wechsel in den Vertrag schreiben lassen, wofür er im Angesicht der Schwierigkeiten diesen Job zu machen sehr glücklich war, wie er später betonte. Er arrangierte sich in den verbleibenden Jahren bis März/April 86 im der Lösung, aber zufrieden damit war er natürlich nicht. So wirklich sehr viel in der Sache bewegte sich in diesen Jahren auch nicht mehr. Unser Binnenverhältnis in dieser Zeit war eher schlecht als Na Ja. Trotzdem finanzierte er mir eine Wohnung und löste mich durch Vergleich bei Gericht in einer sehr obskuren Betäubungsmittelgeschichte (ich war A völlig unschuldig und wollte B mir das nicht gefallen lassen / andere Themengeschichte) aus, als ein Amtsrichter vehement nach Knast rief, der gewiss auch gut in die zwölf 1000 Jahre gepasst hätte oder sogar hat. Von meinem erfolgreichen Abitur erfuhr er trotzdem erst von Kollegen, die es in der Zeitung gelesen hatten. - Während der Phase des Ausscheidens aus dem Gorlebenprojekt und des Rückzugs ins Saarland war er sehr ambivalent, mal so und mal so. Schon verständlich.

DER BERICHT

Die PTB (Physikalisch-Technische-Bundesanstalt / dort befindet sich z.B. die Atomuhr, welche unsere Funkuhren steuert, deren Signal aus Frankfurt kommt) bei Braunschweig war damals so etwas wie eine der Gorlebenerkundung beigeordnete Aufsichtsbehörde. Eigentlich sinnvoll, um sich nicht nur auf die an der Unternehmung beteiligten Firmen verlassen zu müssen, aus denen die DBE gebildet worden war. - In 2009 aber war ich schon sehr verwundert, dass dieser Bericht federführend aus der PTB gekommen sein soll. Es waren doch ganz andere bzw. die DBE, welche federführend die Erkundung durchführte; außerdem war der Vater nicht nur in Richtung Gorleben, sondern auch ständig in Bonn unterwegs, um zu berichten und abzustimmen. Ich nahm die PTB damals nicht als in dieser Weise maßgebend wahr, sondern eher als begleitend. Der Vater war prinzipiell positiv auf diese Organisation zu sprechen. Ab und an gab es wohl auch mal Differenzen, aber die erschienen mir nie essentiell.

Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Die PTB wird im Ausschuss und den Berichten dazu als eindeutig verantwortlich benannt. Zudem geben alte Bohrberichte der Preussag die PTB als Auftraggeber an, was mich in gewisser Weise verwundert hat. Wozu dann überhaupt diese DBE? - Man kann den Eindruck gewinnen, dass Verantwortungen mitunter unklar blieben, so dass da möglicherweise viele Köche an demselben Gericht herumkochten. 

Bei meinen Recherchen ist noch weiteres im Rheinland angesiedeltes Unternehmen aufgetaucht, das im Zuge der Entsorgungsproblematik offenbar parallel zur DBE gegründet worden war. "GNS - Gesellschaft für Nuklear Service". Von denen hatte ich nun noch nie gehört. Trotzdem erklärt man sich dort für die Entsorgung in Zusammenhang mit Gorleben zuständig. - Nach etwas Verwirrung und Recherche habe ich inzwischen verstanden, dass es sich um in erster Linie logistische Aufgaben handeln muss, also z.B. die Castortransporte Zwischenlager etc. Ein Bindeglied, das zur Zeit jenes Berichtes noch keine Rolle dort spielte.

Vielleicht ist das alles ein nach schlappen 30 Jahren schon öffentlich vorhandenes Unwissen zur Zeitgeschichte, denn z.B. der grüne Ausschussbericht zeigt deutlich, dass die Verfasser nicht dabei waren, sondern abhandeln, was in dem Ausschuss kolportiert wurde. Vielleicht habe ich aber auch die Rolle und Aufgabe der DBE als solche missverstanden. Ich weiß es gerade nicht mehr.

Grundsätzlich galt und gilt wohl bis heute, dass das Unternehmen öffentlich nicht bedeutend auftritt. Damals hatte das mit Sicherheitsding zu tun. Ob das noch immer gilt, weiß ich nicht.

Wie dem auch sei, die sachlichen Kerninhalte dieses Berichts müssen einfach von der DBE stammen, und damit wenigstens koordinierend aus dem Büro meines Vaters (ein Schreiberling war er wirklich nicht). Dazu das Material von Wissenschaftlern und Gutachtern. - Helmut Röthemeyer, der Verantwortliche bei der PTB, kann eigentlich nicht der Verfasser gewesen sein, sondern höchstens Jemand dazu Kommentierendes, Empfehlendes und/oder Einreichendes.

Die Aussage, dass durch die neue Regierung manipulierender Druck gemacht wurde, passt natürlich zu meiner Erinnerung. Das Treffen am 11. Mai 83 in Hannover hat auch bei mir zu Hause Eindruck gemacht: Ich wundere mich nur darüber, dass mein Vater sehr konkret von der Befürchtung ausging, dass die Endlagererkundung nun wirklich vorbei sein könnte. Es muss diese konkrete Drohung gegeben haben! Herr Röthemeyer aber spricht "nur" von der als Weisung verstandenen Information, ganze Passagen zu noch möglichen Risiken zu löschen und die Empfehlungen dahingehend zu ändern, dass nicht auch nach Alternativstandorten gesucht werden soll.

War die neue Regierung sich etwa politisch nicht sicher, das Projekt in den eigenen Reihen durchzubekommen? Eigentlich kaum vorstellbar, denn das damalige CDU Land Niedersachsen hatte ein sehr vitales Interesse. Ein Rivalitäts- und Machtdings zwischen Kohl und Albrecht? Wer weiß, vielleicht.

Mein Vater jedenfalls glaubte aufgrund seines Wissens Zeit seines Lebens, dass die Endlagerung in diesem Salzstock möglich wäre. Warum, frage ich, hätte er eine solche Angst haben müssen vor dem Verhalten der neuen Regierung, wenn diese doch so sehr mit sogar manipulativen Mitteln auf die Fortführung des Projektes aus gewesen ist? Das passt wiederum nicht zu meiner Erinnerung!

Der Untersuchungsausschuss des Bundestages in 2010 hat die tatsächlichen Vorgänge damals jedenfalls mitnichten geklärt. Das scheint mir sicher!
Zu viele Fragen bleiben offen:

Wer war namentlich anwesend in Hannover an diesem 11. Mai 1983?

Wer zeichnet verantwortlich für den Erkundungsbericht zum Endlager Gorleben 1983? Ganz konkret unterzeichnend mit Namen?

Wer übte namentlich in welcher Funktion und vor welchem Hintergrund Druck auf Herrn Röthemeyer und/oder andere aus?

Warum überhaupt gab es offenbar auf allen Seiten ein Problem mit dem möglichen Ergebnis dieses Berichts? - Nicht nur Herr Röthemeyer und Herr Illi von der PTB hätten im Ausschuss gehört werden müssen, sondern seinerzeit damit befasste Politiker und Beamte in den Bonner-Ministerien.

Mein Vater - leider - konnte sich nicht mehr äußern. Er war im September 2009 schon unheilbar krank und verstarb am 5. Oktober. Das hätte ihn interessiert. Ganz bestimmt hätte er einiges über den Vorgang zu sagen gehabt; ... obwohl er schon vor langer Zeit für sich beschloss, nichts mehr über Gorleben preiszugeben.

---

Während ich meinen Eltern zum Rückzug ins Saarland beim Renovieren half, stieß ich auf einen hohen Kistenstapel mit Gorleben-Unterlagen. Ich blätterte ein wenig darin und sagte zu meinem, dass man solche Dokumente doch bestimmt nicht einfach mitnehmen könne. Seine trockene Antwort: "Das ist zu unserer Sicherheit".

P.S. Diese Unterlagen übrigens existieren nicht mehr. Nachdem er sich sicher war, dass da nichts mehr kommt und es keinen weiteren Nachgang geben würde, hat sie schon vor langer Zeit - korrekt wie er war - vernichtet und die Akte Gorleben geschlossen.

Im Grunde schade, denn die Vermutung ist nicht so weit hergeholt, dass sich darunter die Wahrheit zu dieser nicht aufgelösten Geschichte befunden haben wird.

Sonntag, 13. November 2011

Thema 7: Meine Erinnerung an den „deutschen Herbst“ (KW 45 / 2011)


Vor kurzem sah ich noch einmal den Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“ des zu Jahresbeginn verstorbenen Produzenten Bernd Eichingers. Gut gemacht – das ist nicht kommentieren – mit sehr überzeugenden Darstellern wie etwa Moritz Bleibtreu, Martina Gedeck und v.a. Bruno Ganz als BKA Chef oder so.

Allerdings dachte ich auch, dass man die Dramaturgie des Films eigentlich gar nicht richtig nachvollziehen kann, wenn man die Rahmenfakten nicht als Zeitzeuge schon kennen würde bzw. nicht mindestens das als Vorlage dienende Buch von Stefan Aust gelesen hat (ich hatte es vor über 20 Jahren in den Händen). Es hätte mich interessiert, ob mein 18jähriger Sohn die Handlung würde nachvollziehen können, aber solche Themen sind zumindest während dieser Periode nicht seine Sache und der Zweiteiler lief sehr spät am Abend.

Meine persönlich früheste Erinnerung an die RAF ist ein Witz, der im Zusammenhang der Namensähnlichkeit von Baader mit einem Versandhauskatalog kursierte. Ich kann ihn hier nicht mehr wiedergeben und verstand ihn auch nicht, denn ich war gerade mal Grundschüler. Es muss zeitlich ungefähr ein Weilchen nach Ulrike Meinhofs Sprung aus dem Fenster gewesen sein (bei der Gefängnisbefreiung Baaders 1970), welcher symbolisch in die Zeitgeschichte für den Gang in den Untergrund eingegangen ist. Auf jeden Fall deutlich vor der Festnahme von Baader und Meinhof.

In der Folge aber nahm ich intensiv und verstärkt auch die Fahndungsplakate war, welche überall auftauchten. Öffentliche Gebäude, Häuserwände, Bushaltestellen, Türen von Ladengeschäften, überall. Ich bemerkte, wenn ein Name oder Gesicht hinzukam, wenn eines verschwand. Ich erinnere, dass ich zu verstehen versuchte, warum einzelne Fotos plötzlich durchgestrichen oder geschwärzt waren.

Das Olympia-Attentat 1972 registrierte ich nicht in diesem Zusammenhang, weil ich davon natürlich nichts wusste. Ich erinnere jedoch sehr intensiv die Siegersprünge von Ulrike Meyfharth (erst 16 oder 17), deren Namensähnlichkeit zu Ulrike Meinhof ich als Kind erst einmal verwechselte und von Heide Rosendahl, sowie auch den Ausnahmeschwimmer Mark Spitz (7 Goldmedaillen!). Alle diese Bilder sind aber für immer verknüpft mit den nur aus der Ferne zu sehenden Fernsehaufnahmen der sich auf dem Balkon im olympischen Dorf produzierenden palästinensischen Terroristen und dem späteren Hubschrauber-Blutbad auf dem Flugfeld Fürstenfeldbruck.

Ich erinnere mich später zwar nur ausschnitt-haft, aber intensiv an die Fernsehberichte mit Schlagwörtern wie „Hungerstreik“ und „Isolationsfolter“, auch an den Tod von Holger Meins, die Entführung von Peter Lorenz und so einiges mehr. Was ich als Kind so gar nicht einordnen konnte, waren die vielen Bekennernamen wie etwa „Bewegung 2. Juni“. War das jetzt RAF oder was war das? – Natürlich verstand ich auch sonst nicht, was da vorging. Niemand erklärte es mir. Entweder dem Kind gegenüber gewollt oder selbst unfähig zur Einordnung, ich bin da nicht entschieden.

Als ab irgendwann 1975/1976 Stammheim und die sogenannten „Stammheimer“ in den Mittelpunkt der RAF-Berichterstattung rückten, verfolgte ich das Geschehen bereits aufmerksamer und durchaus mit Ansätzen eigener Wertungseindrücke. Die Nachrichten zum RAF Prozess beschäftigten mich. Als Meinhof starb, fragte ich, wieso die sich plötzlich umgebracht haben soll und ob es nicht doch sein könne, dass sie umgebracht wurde. – Solche Theorien kamen zwar nicht in der Tagesschau, aber ich hatte es irgendwoher … keine Antwort.

Im Frühjahr und Sommer 1977 begann der deutsche Herbst schon einmal vorzudämmern. Aus meiner Sicht völlig neue Namen tauchten da auf und hatten sich in einer Weise radikalisiert, die eigentlich nichts mit dem Tun der RAF gemein hatte, das ich als damals 13jähriger bis dahin wahrgenommen hatte. Blanker Mord war das nämlich nicht. Ich erinnere dazu hitzige Schulhofs- und Klassendiskussionen. – Ich weiß nicht, ob in mir zuvor eine gewisse Sympathie für vielleicht einen Kampf gegen das System oder seine Zustände gewesen ist, vielleicht eben ein inneres Grundverständnis für das Recht, sich zu wehren. – Die Morde an Buback und Ponto jedenfalls, welche mir als Personen bis dahin völlig unbekannt (ich war 13) waren, registrierte ich erstmalig in meinem Leben mit Abscheu und als Barbarei! Die spezielle und angeblich zunächst unbedarfte Geschichte von Susanne Albrecht (befreundet mit der Familie Ponto) widerte mich an.

Dann kam er, der deutsche Herbst! Brutal und unbarmherzig. Die Schleyer- und Landshut-Entführung mit dem Ende von glücklicher Befreiung, Ermordung und anschließendem Selbstmord in Stammheim kennt jeder. Aber das Geschehen damals griff auch in das Leben eines jeden einzelnen von uns ein. Kontrollen und Polizei mit dabei bis an die Zähne bewaffneten MPs überall und omnipräsent. Ich kann überhaupt nicht zählen, wie viel aggressives Auftreten der Staatsmacht ich damals rund um Saarbrücken sah, wo meine Familie in der Nähe lebte. Einmal wurde sogar der Bus durchkämmt, der mich zur Schule in die Stadt brachte. Von Männern mit kugelsicherer Weste und Maschinengewehr quer vor der Brust.

Die Nachrichten zur Entführung von Schleyer beherrschten wochenlang alles öffentliche Geschehen. Vormittags in der Schule, abends auch noch zu Hause. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich bilde mir ein, dass diese furchtbare Fahndungspanne mit der Wohnung, in der es dieses Kabuff mit den Lebenszeichen und Bildern von Schleyer gab, bereits so als Panne bekannt wurde, während die Entführung noch mitten im Gange war. Man hatte konkrete Hinweise – wie im Film dargestellt – bürokratisch einfach untergehen lassen.

Dann kam die Landshut-Entführung dazu. So ein Wahnsinn! Und man bekam es regelrecht am eigenen Leib mit der Angst zu tun. Es konnte jeden und auch einen selber treffen. Das begriff ich anhand dieses Geschehens auch als 13jähriger mit dem ganzen Fahndungsirrsinn vor der eigenen Haustür (zur Erklärung: wir lebten mitten in einem speziellen Fahndungsschwerpunkt. Das Saarland war in jenen Jahren so etwas wie ein Rückzugsraum mit z.B. Zahnärzten der RAF-Szene gewesen und aufgrund seines sogenannten „kleinen Grenzverkehrs“ auch ein Ort zum Verlassen und Betreten der damaligen BRD).

Ich verfolgte die Entführung jeden Tag. Der Stern brachte einen mit Grafiken (hier: Der Spiegel)vom Flugzeug und der Situation darin detaillierten Artikel, zusammen mit einer Homestory – wie man heute sagen würde – des Flugkapitäns Schumann. Als genau dieser Mann dann in Aden erschossen wurde, war ich regelrecht geschockt. Ich erinnere mich. Dass das Flugzeug damals gar nicht auf der Landebahn gelandet war, sondern daneben mitten im Wüstensand und der Ausstieg des Kapitäns in erster Linie mit dieser Tatsache zu tun hatten, war in der Berichterstattung damals noch nicht bekannt. Der Mann versuchte den zuständigen Kommandeur der Jemeniten, Scheich Ahmed Mansur, erfolglos davon zu überzeugen, das schwer beschädigte Flugzeug nicht mehr starten zu lassen.
Nicht nur dass die Terroristen glaubten, der damalige Südjemen wäre auf ihrer Seite, die Handelnden dieses Staates haben nach der Entscheidung mit dieser Entführung nichts zu tun haben zu wollen, auch eine Kette an weiter unglücklichen Maßnahmen getroffen. Jürgen Schumann kostete dies das Leben, obwohl es natürlich Mahmud war, der ihn regelrecht hinrichtete und wie einen nassen Sack aus dem Flugzeug werfen ließ (in Mogadischu). Ich werde diese Bilder nie vergessen.

Die Landshut startete aufgetankt wieder, obwohl die Triebwerke voller Sand waren und kaum noch ein technisches Gerät richtig funktionierte (Man wusste etwas über ausgefallene Klimaanlage, aber nichts über die anderen Probleme). Dass die Maschine überhaupt abhob und in Mogadischu sicher wieder landen konnte, ist ein kleines flugtechnisches Miraculum wie etwa die glückliche Landung jenes Airbus auf dem Hudson River in 2010.

Wir bekamen all das in den Nachrichten jetzt nicht mehr richtig mit. Mogadischu war nur eine weitere  Station des Dramas. Die Bilder vom Tod des Piloten beherrschten zunächst alles. Erst gab es nachrichtenmäßig Vermutungen, dann wurde die Leiche über Bord geworfen. Widerlich.

Die Zeitschrift „Stern“ war auch zu jener Zeit bekannt für seine Fotoserien mit bescheiden viel Text als Informationsbeigabe. Dazu Doppelseiten mit damals geschickt gemachter Grafik, welche komplexere Vorgänge auf einem Bild zusammenfassten. So auch in der Ausgabe jener Woche, welche die Ereignisse der Landshut-Entführung im Kontext zu Schleyer und den in Stammheim Inhaftierten darstellte. Das Special über den Flugkapitän Jürgen Schuman schilderte ihn als positiven, erfahrenen Mann, der im Begriff sei, demnächst auf die großen Jumboflieger (Airbus gab es noch nicht) und Langstrecken umzusteigen. Gruseligerweise wurde sein Tod gerade zu der Zeit bekannt, da ich das las.

Die Nachricht der Geiselbefreiung – übrigens die Erfolgreichste, die es in vergleichbarer Sache bis auf den heutigen Tag gegeben hat – erreichte mich zum Frühstück noch im Dunkeln. Niemand konnte fassen, dass weder die Geiseln noch ihre Befreier ernsthaft zu Schaden gekommen waren, nur die Geiselnehmer waren bis auf eine Frau tot.




Gleichzeitig meldeten die Nachrichten (Radio) aber auch Tote in Stammheim. Die Meldung war nicht so richtig klar und bestätigt. Ich hatte Probleme mit dem Zusammenhang. Im Schulbus oder der Schule an diesem Tag sagte und hörte ich mehrfach, dass der Schleyer jetzt wahrscheinlich auch tot sein würde. Das Bild mit der Leiche im Kofferraum überraschte mich nicht mehr, aber schockte mich dennoch erneut.

Damit war der deutsche an seinem blutigen Ende angekommen. Ich fragte mich, ob es das nächste Mal noch schlimmer werden würde und was dann wohl passieren würde? Es kam erst einmal nichts wirklich Schlimmes mehr. Die Eskalation 1977 hatte beide Seiten bis an den Rand des Äußersten gedrückt. Ich erinnere mich nicht deutlich. Nur noch kleinere Überfälle, Beschaffungskriminalität für den Untergrund, das momenthafte Auf- und Abtauchen gesuchter Personen, der missglückte Anschlag auf Alexander Haig ein paar Jahre später, das war zunächst einmal alles. – Ich wuchs in diesen Jahren pubertierend in das eigene politische und gesellschaftliche Bewusstsein hinein, ging zu Biermann und Liedermachern ins Konzert, marschierte bei Demos mit, insbesondere zum Thema Frieden. Mein Eindruck von der RAF damals nach 77 war der, dass diese Leute völlig ihre Botschaft und Ziele aus den Augen verloren hatten bzw. sich nur noch in einem verhängnisvollen Kreislauf zwischen Untergrund, Gewalt und Selbstzweck befanden. Bestenfalls Gefangenenbefreiung, keine Erklärungen und Forderungen mehr zu Veränderung von Staat und System. Dazu komplett an der Gesellschaft und den Menschen, also dem Volk, für das sie ja zu kämpfen glaubten, vorbei.

Es war so viel Bewegung da, alles war kreativ und engagiert. Ökologie, Frieden, die neue-Frau-Mann-Kiste, und, und, und – ein ganzes Stück Gesellschaft war in Bewegung und die RAF nur noch geächtet im Abseits, im Untergrund und weg von allem, wofür diese Menschen sich einst ja hatten einsetzen wollen.

Für den Staat selbst war es nach den dramatischen Tagen im Oktober 1977 noch längst nicht vorbei. Die Jagd begann von Neuem. Rasterfahndung, wieder bis an die Zähne bewaffnete Kontrollen und Straßensperren. Man sprach von der „2. Generation“, die Staatsfeine Nr. 1 hießen nun Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar!






So richtig Erfolg hatte die aufwendige, in das Leben der Menschen eingreifende Fahndung nicht. Erst Jahre später, als der Druck nachgelassen hatte, passierte mit der Unvorsichtigkeit der Gesuchten das Unvermeidliche. Sie wurden Anfang der 80er Jahre einer nach dem anderen gefasst oder waren in der DDR und anderen Orten weggetaucht, bis in den 90er Jahren sich auch diese Verstecke nach der sogenannten Wende in Luft auflösten.



Zur Verdeutlichung wie das damals war: 1978 geriet meine ältere Schwester in eine solche Kontrolle und in den Verdacht, die berüchtigte Terroristin Adelheid Schulz zu sein. Eine gewisse äußere Ähnlichkeit war unbestreitbar. Bis zur zweifelsfreien Klärung ihrer Identität wurde sie mit Maschinenpistolen in Schach gehalten. Wahnsinn, oder?!






Soweit also das eigene Erinnern eines Kindes an diese Jahre des deutschen Terrors, der sich –historisch betrachtet – von anderen Terrorgruppen und Vereinigungen stark in Entstehung und Inhalten unterschieden hat.

Es gab noch eine dritte und angeblich auch vierte Generation, es gab v.a. noch die Morde an Herrhausen und Rohwedder, aber jene absurde Geschichte, den Staat aus dem Untergrund heraus mit Anschlägen bekämpfen zu wollen, war vorbei. Endgültig. Der Glaube daran die Zustimmung und Unterstützung durch Teile der Bevölkerung zu haben, war irreal und auf schlimme Weise fatal, denn gerade diese letzten Attentate gegen die Deutsche Bank und Treuhand Chefs sollten ja wohl dies in Bewegung setzen. Wie weltfremd!

Das Geschehen und die Fakten zur RAF sind weitgehend bekannt. Nur vereinzelte Puzzle-Stücke blieben bis heute im Dunkeln. Wer genau schoss von diesem Motorrad aus auf Buback? Wer tötete Schleyer? – Diese Dinge sind insbesondere für die Hinterbliebenen der Opfer eine Zumutung. Man mag über das öffentliche, fast ein wenig populistische Vorgehen eines Michael Buback geteilter Meinung sein, aber eines ist doch mal sicher:

die Opfer haben ein verdammtes, unverbrüchlich moralisches Recht auf die Wahrheit!

Schlimm, dass man den sich vom Terrorismus mittlerweile distanzierenden Tätern auch nach Jahrzehnten bis auf den heutigen Tag eigentlich kein Wort glauben kann.

Und nun?

Es wären da aber doch noch ein paar Worte in Richtung von Bewertungen und Einsichten über das Geschehen rund um den deutschen Herbst zu sagen.

Helmut Schmidt hat sich ja ausführlich zu der Situation und seiner Haltung geäußert, … auch in Sachen Einsamkeit der unfassbar harten Entscheidung über möglicherweise Leben und Tod. Uns allen bekannt sind das Schriftstück, das den Staat auffordert, im Falle seiner Entführung (und seiner Frau Loki) nicht nachzugeben. Ebenso der bereits vorbereitete Rücktritt bei missglückter Geiselbefreiung in Mogadischu.

Hätte es aber soweit bis zum deutschen Herbst hin überhaupt kommen müssen? Gab es für den Staat im Umgang mit diesen fehlgeleiteten Leuten, die sich über die Jahre immer mehr radikalisiert hatten, vielleicht nicht doch die ein oder andere Alternative?

Ich glaube eindeutig ja! Allerdings mit der Einschränkung, dass Einsichten mit zeitlichem Abstand das Wissen um die tatsächlichen Folgeereignisse mitberücksichtigen, welches den Entscheidungsträgern mitten im Geschehen allerdings nie zur Verfügung stand.

Richtig ist die historische Bewertung (u.a. Helmut Schmidt), dass die 1975 erfolgreiche Geiselbefreiung durch die Entführung von Peter Lorenz ein fataler Fehler war. So grausam es klingt: dieser Umstand ließ die Terroristen wahrscheinlich annehmen, dass es möglich sein könnte, mit maximaler Gewaltanwendung auch die in Stammheim Inhaftierten zu befreien. – Das alles ist eine furchbare Kausalkette.

Wir alle – glaube ich – sind einer Meinung, dass der Staat an dem Punkt, der 1977 gekommen war, nicht mehr nachgeben durfte. So schrecklich das auch werden würde und dann ja auch wurde …

Aber, frage ich dennoch, wie konnte es nur passieren, dass man als Staat auf der einen Seite Geiseln aus einem Flugzeug extrem professionell befreite, am nächsten Morgen aber andererseits die Inhaftierten desselben Staates tot in ihren Zellen liegen, … was dem entführten Hanns-Martin Schleyer logischerweise jede Chance auf sein Überleben nahm??

Selbst zusammengebastelte Rundfunkempfänger, im Plattenspieler versteckte Pistole, geschmuggelte Papiere aller Art, simpelste Verständigung über Rohrleitungen, Stromkabel und/oder Belüftungssysteme und anderes!? – Mich hat immer gestört, dass man diese Verantwortung des Staates nie adäquat diskutiert hat bzw. nie das Versagen in der Verantwortung auf höherer Regierungsebene öffentlich angebracht einräumte. Auch Helmut Schmidt nicht, er spricht es zwar an, fühlt sich jedoch nicht mittelbar beteiligt.

Ich sehe das anders aus einer Reihe von Gründen. Es fängt viel früher bereits an:

Hätte man sich nicht spätestens schon 1970 Gedanken auch in eine ganz andere Richtung lenken müssen, als die bekannte Journalistin Ulrike Meinhof bei der Befreiung Baaders aus dem Fenster sprang und in den Untergrund ging? 

Man fahndete jetzt mit Plakaten und „Verbrecherstatements“ in den Medien, aber man „kommunizierte“ nicht. Diese Leute verstanden sich nun einmal nicht als Kriminelle! Vielleicht wieder einmal naiv gedacht, aber vom Staat und dem abgelehnten System her formulierte Angebote zu Alternativen und Perspektiven, um aus Illegalität und Untergrund wieder herauskommen zu können, hätten auch nicht geschadet. Spätestens bzgl. der damaligen Schriften der RAF (z.B. „Die Stadtguerilla“). Diese Dinge wären sehr gut und öffentlich leicht zerlegbar gewesen, weil daraus ja nichts anderes als Veranntheit triefte. Die in sich sowieso nicht sehr einige Gruppe wäre zu spalten gewesen und hätte sich im Untergrund möglicherweise nicht so extrem radikalisieren können.

Warum begegnete der Staat diesen Parolen von der „Isolationsfolter“ und „Vernichtungshaft“ damals nicht offener und vor allem auf politischer Ebene nicht mit einer ordentlichen Debatte zur Rechtsstaatlichkeit?

Ich vermute einfach mal, dass es der menschlich angefressene Effekt des prinzipientreuen Starrsinns war; Terroristen sollten dem Staat weder Handlungen noch Erläuterungen vorschreiben dürfen. Leider brachte diese Phase dem sogenannten harten Kern viel Zulauf aus der potentiellen Unterstützerszene am extrem linken Rand der Gesellschaft ein, wenn man das überhaupt links nennen darf (widerstrebt mir persönlich).

Mit ein wenig Selbstüberwindung wäre viel Wind aus den Segeln jener Radikalisierung zu nehmen gewesen. Die Kritik geht deutlich auch an die Administration Brandt, die – schon ein wenig seltsam – politisch und auch technisch nicht wirklich verstand, was da anschwoll. Hätte man nicht vor dem Hintergrund der Bewegungen ab ca. 65 und den ganzen bis dahin gemachten Erfahrungen längst Strömungen und Entwicklungen einordnen und bewerten können müssen? Brandt selbst konnte oder wollte es nicht komplexer wahrnehmen; er fühlte sich persönlich verletzt, dass gerade sein Regierungsprojekt von dieser damals neuen Art Linke (APO etc.) derart angegriffen wurde. Ich jedenfalls entnehme dies seinen Schriften zwischen den Zeilen.
 
Wieso blieb der Justizvollzug beziehungsweise die verschiedenen Maßnahmen bzgl. der RAF Häftlinge bis zum deutschen Herbst hin eine derartige Katastrophe?
Diese Frage ist im Grunde sogar beschönigend formuliert, eigentlich geht es um regelrechten Dilettantismus. Verzeihung, ich will niemandem zu nahe treten und sehe auch, dass das im Täglichen zum Beispiel für die Wachleute nicht einfach gewesen sein kann. Dennoch muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass über 5 Jahre hinweg doch ziemlich viele Dinge schief gegangen sind. Zunächst der wichtigste Widerspruch: der Staat bestand zu Recht darauf, dass es hier nicht um „politische Gefangene“ gehe, sondern um kriminell handelnde Menschen. Dann aber muss mit solchen Häftlingen verfahren werden, wie mit allen anderen auch. In der einen (Kommunikationssperre / Isolierung von gewöhnlichen Häftlingen) wie der anderen Richtung (merkwürdige Vergünstigungen / Sonderbau in Stammheim) war das zu verschiedenen Phasen nie der Fall.

Die Art und Weise des Umgangs mit dem Fall Holger Meins (Zwangsmaßnahmen / medizinische Versorgung etc.) hat es irgendwo der Szene draußen leicht gemacht, Mord zu propagieren und Rache zu schreien. Nachgerade, als hätte man dem Terror in die Hände gearbeitet. Psychologen, Profiler, speziell geschulte Beamte und auch Ärzte, all das wäre von Nöten gewesen.

Der zusammen gefasste Stammheim Prozess lieferte eine Bühne und ein Forum für die Szene, die eher befeuerte als Recht abhandelte. Zudem machte die Justiz eine nicht eben glückliche Figur im Umgang mit der provokanten Art der Angeklagten. Will sagen, sie war mit der Sache überfordert und verstand von der Leitung des Prozesses her schon einmal nicht, dass diese Menschen das System unseres Staates als solchem bzw. wie er existierend handelte ablehnten. Auch erkannten sie nicht die Autorität des Gerichts über ihre Taten an. Ich kann das nicht wirklich beurteilen, nehme aber an, dass der Prozess mit den falschen Personalien besetzt worden war. Auch wieder nicht klug.

Ist das Klima und die Kommunikation unter den Stammheim-Häftlingen jemals oder auch nur ernsthaft kompetent beobachtet, untersucht oder bewertet worden?
Die Ausgrenzung, Isolierung und Depression von Ulrike Meinhof hätte doch bemerkt werden müssen. So schwer kann das nicht gewesen sein; Personen in Kontakt mit ihr, die Kinder (auf freilich verwirrende Briefweise) etc. bekamen es jedenfalls mit und machten auf die Gefahren aufmerksam. – Ich kann nur schwer nachvollziehen, wie eine ganze Kette zuständiger Menschen so ignorant sein konnte bzw. die sich bietenden und angezeigten Möglichkeiten für den ganzen Terrorkomplex einfach nicht wahrnahm.

Mit einer Ulrike Meinhof im wieder aufgenommenen Dialog hätte sich im Rahmen der Szene viel bewegen lassen. Wenn der Staat – über welchen ausgewählten Kanal auch immer – mit jemandem hätte kommunizieren können, dann war es Ulrike Meinhof. Ich will das nicht naiv vortragen, vieles spricht dafür, dass sie keinesfalls zur „Verräterin an der Sache“ (wie z.B. Ensslin ihr während des Prozesses wohl unterstellte) werden wollte, aber einen ihr akzeptablen Strohhalm hätte sie wohl ergriffen. Auch dafür spricht einiges.
 
Ich kann mir ganz gut vorstellen, dass es den deutschen Herbst vielleicht gar nicht hätte zu geben brauchen mit einer Gefangenen Ulrike Meinhof, die man z.B. kontrolliert hätte publizieren lassen können (keine Gewaltaufrufe, sondern Thesen, Ideen etc.). Voraussetzung wäre natürlich gewesen, dass man die Entfremdung gegenüber den anderen und die Not der Frau erkannt hätte.
 
Nur eine von alles in allem bestimmt vielen Handlungsperspektiven des Staates damals. Draußen in der Szene hätte so etwas möglicherweise Konstellationen verändern können. Das weiß man heute, weil die Sache sich längst im Kreis drehte und die Situation der inhaftierten „Vorbilder“ der Stammheim-Häftlinge im Focus der kommenden zweiten Generation stand.
 
Last, not least die sogenannte Todesnacht von Stammheim! Wie kann es denn so wahnsinnig in einem der spektakulärsten Gefängnisse jener Zeit zu einem solchen Geschehen und Totalversagen des Justizvollzugs kommen?
Ich bin echt kein Anhänger von geheim-dienstlichen Mordtheorien, wie sie zumindest damals der spätere Bundesinnenminister Otto Schily als Anwalt von Ensslin vermutete, aber das Versagen der Justizvollzugs-behörden dort in Stammheim ist in dieser Sache ebenso vollständig wie auch unver-ständlich. Und: Es kostete Schleyer unwiederbringlich das Leben; nicht der Staat brachte ihn um, aber es war die in der Eskalation des deutschen Herbstes logische Mordfolge.

Man weiß heute, wie die Waffen, elektronischen Teile, Sprengstoff, Nachrichten etc. pp. über Aktenortner während des Prozesses in die JVA gelangten, aber man möchte sich auch gleichzeitig an den Kopf langen, so hollywoodhaft ist diese Geschichte. Stellt Euch nur mal vor: ein Ordner mit einer ganzen Pistole darin, und Du merkst beim Durchblättern nicht, dass die Seiten nach innen hin zusammenkleben. Nicht nur einmal nicht, sondern vielfach und über lange Zeit (2 Jahre) hinweg! Das ist extrem merkwürdig in einer JVA mit der damals weltweit vielleicht höchsten Aufmerksamkeit. – Ich neige, wie gesagt, nicht zum Kolportieren von Verschwörungstheorien, sondern eher zur schlechten Ausbildung von Beamten, zu fehlendem Profiling und beobachtender Psychologie als Beratung, zu überheblichem Verhalten in Staatsuniform und zu naiver Inkompetenz gegenüber dessen, womit man es zu tun hatte.

Ich habe großen Respekt gegenüber der Administration Schmidt im Krisenverhalten während des deutschen Herbstes im September und Oktober 1977 (insbesondere dass der Bundeskanzler den Mut und die Fassung aufbrachte im Angesicht seiner notwendig harten Entscheidungen bei der Trauerfeier der Familie Schleyer öffentlich beobachtet gegenüberzutreten), aber ich kann auch nicht umhin erstens ganz deutlich zu kritisieren, dass das Umgehen der Bundesrepublik mit dem weltweit zugegeben sehr außergewöhnlichen Phänomen RAF bis etwas über den deutschen Herbst hinaus ein überwiegend ungeschicktes bis unglückliches gewesen ist, und zweitens mich riesig daran zu stören, dass die Umstände versagender Verantwortungen auf Seiten unserer Republik bis heute noch nicht richtig benannt und bewertet wurden.

--

Vielleicht aber ist die ganze Geschichte mit Stand 2011 auch noch gar nicht zu Ende erzählt worden.

In sehr vielen Details und vielen Momenten steht die ganze Wahrheit durch ehemals beteiligte Terroristen noch weitestgehend aus. Nicht alle von ihnen werden das irgendwann auch mit ins Grab nehmen wollen. Damit rechne ich fest und erhoffe es mir für die Opferfamilien.

Ebenso haben Beteiligte auf der Seite des Staates im gleichen Zuge die Chance ihren sinnvollen Beitrag zu Geschichte und Gesellschaftsfrieden zu erkennen und zu leisten. Vom Polizisten und Vollzugsbeamten über BKA und Fahndungsbeteiligte bis hin zu Staatssekretären, Geheimdienstlern, Krisenstabsmitgliedern und Altbundeskanzler Schmidt. – Es gäbe noch einiges auf den Tisch zu legen.