Donnerstag, 20. Oktober 2011

Thema 2: Unser einig Vaterland (KW42 / 2011)


Ich habe mich in der ‚alten BRD‘ vor 1990 wohler gefühlt“.

Wer diese Worte liest, der mag mit Unverständnis reagieren oder den, der dies sagt für einen Vereinigungsgegner bzw. bestenfalls für einen Gute-alte-Zeit-Romantiker halten. Aber das stimmt weder in der einen, noch der anderen Richtung. Was ich in diesem Satz sage, ist tatsächlich wörtlich gemeint; ich habe mich in jenem Staat damals wohler gefühlt als in diesem von heute, denn es ist nicht mehr das gleiche Land. Und um es vorweg zu nehmen, das hat nicht ursächlich mit der Tatsache der deutschen Einigung oder den 15 Millionen Menschen zu tun, die zur Bundesrepublik hinzugestoßen sind. Nein, das ist es nicht, aber die politische Umsetzung der Wiedervereinigung und wohl auch der Umgang mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation schufen Bedingungen und Ergebnisse, die ich mehr und mehr als eher kläglich empfinde.

Warum? – Gerne gebe ich euch ein paar Hinweise ohne Anspruch Vollständigkeit oder gesamtpolitische Erklärung.

(1)
Die alte Bundesrepublik war formal kein komplett souveräner Staat, weil nach dem 2. Weltkrieg aufgrund der konfrontativen Ost-West-Entwicklung keine wirkliche Regelung entstand, sondern nur ein Status Quo. In Gesellschaft, Wirtschaftsleben und Alltag merkten wir das kaum. Dennoch gab es bestimmte Unterschiede zu anderen normal souveränen Staaten. Sichtbare und nicht so sichtbare. Am Besten lässt es sich heute vielleicht rund um die ganzen Besonderheiten von Westberlin und der Tatsache veranschaulichen, dass es die Stadt überhaupt so gab.

Nicht so deutlich sichtbar waren andere Eigenschaften des Landes. Die aber hatten etliches für sich:

Es war das einzige führende Industrieland, das sich (trotz Wiederbewaffnung / spezielle Episode) nicht ständig in kriegerische Scharmützel bis Kriege verwickeln ließ.

In Krisenregionen engagierte sich das Land vor allem humanitär, aufbauend und nachhaltig unterstützend. Die Bundesrepublik erwarb sich hierbei zu Recht den allerbesten Ruf in der Welt. Vor allem im Rahmen von Uno-Einsätzen – welche zu jener Zeit tatsächlich noch humanitär etwas bewegten – und natürlich im anschließenden Folgeengagement.

Auf dem diplomatischen Parkett waren es auch eher die leisen und fein ausgleichenden Töne, welche nach Kompromissen und gangbaren Lösungen suchten. – Gerade hier entstand mit den Jahren damals eine weltweit exzellente Reputation. Deutschland war ein hochgeschätzter Gesprächspartner und Vermittler, mit dessen Rolle man sich auch als Bürger einigermaßen wohl fühlen konnte. Kein polternder Anwärter auf ständigen Sitz im Sicherheitsrat.

Haltet mich nun bitte nicht für unkritisch oder naiv. Selbstverständlich gab es auch andere Aspekte, sonst wären wir für gewisse Themen ja nicht derart auf die Straße gegangen.
Da war natürlich die Sache mit der erzwungenen und krampfhaft immer mehr ausgeweiteten Wehrpflicht (wir nannten es Kriegsdienst). Da war auch die unselige Rolle, welche das Land v.a. bei den späten Rüstungsrunden zwischen Ost und West spielte. Da war das politisch mitunter ziemlich hysterische Geifern und die ein oder andere internationale Posse, wenn es auch nur ansatzweise um Statusfragen im Rahmen der sogenannten „Deutschen Frage“ (Oder-Neiße-Grenze etc. pp.) ging.

Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: In meinem Schulatlas (70iger Jahre) war Deutschland ausschließlich in den Grenzen von 1937 zu finden; die wirklichen Grenzen (Polen, Sowjetunion, DDR) nur ein wenig eingestrichelt.

Zugegeben, so war sie auch, diese alte BRD …

Trotzdem aber in gewisser Weise zum Wohlfühlen. – Ich erinnere z.B. das Gespräch mit einem Iren während eines Sommers in den frühen 80ger Jahren am französischen Atlantikstrand. Der sagte, dass die Deutschen ein so großes, starkes und stolzes Volk (mit Anspielungen auf Wirtschaft, Geschichte, Taten, na ja) wären, aber alle, die man trifft, seien einfach kein bisschen stolz auf ihr Land. Ich antwortete: „Siehst Du, genau das ist es doch. Ich bin ziemlich stolz darauf, in dieser martialischen Welt nicht stolz sein zu müssen auf mein Land.

(2)
Die alte Bundesrepublik war im Inneren ein Land, das nach furchtbarer Geschichte und – zwar wirtschaftlich schnell auf den Beinen – gesellschaftlich einem holprigen, z.T. unehrlichen Stotterstart (Altlasten in mitunter Kernfunktionen / innere Verweigerung der Auseinandersetzung) über diverse Prozesse und Erfahrungsmomente hinweg eine stabile und einigen Zusammenhalt bietende Gesellschaftsstruktur in den letzten 10 – 15 Jahren vor der Einheit entwickelt hatte. Nicht perfekt und natürlich übersät mit Baustellen, aber das muss ja auch so sein und geht im Leben schließlich immer weiter. Nein, ich meine, es war ein Land geworden, dessen innere Strukturen endlich relativ gesund waren und welche man eigentlich gegen kein anderes Landes mit vergleichbaren Grundbedingungen eintauschen wollte. – Kein Witz.

Nicht perfekt, aber die Bundesrepublik war ein Land, in dem sich etwas bewirken und bewegen ließ. Und zwar in der ganzen Bandbreite des Spektrums. Trotz oder gerade wegen der ganzen Auseinandersetzungen in der sich suchenden Gesellschaft: 68 (eigentlich ein Generationenkonflikt mit aktuellen Zeit- bzw. Folgeaspekten der fehlenden Aufarbeitung und des Wegschauens der Eltern), APO, Feminismus, Friedens- und Ökologiebewegung (mit Quantensprung in der Umwelttechnik und auch den Grünen als Folge) und vielen kleinen Effekten mehr.

Noch Ende der 80ger Jahre erlebte ich während des Studiums selbst, dass sich mit Anliegen und Zielen durch einfaches, nicht etabliertes Engagement Dinge deutlich und konstruktiv bis z.B. in die Gesetzgebung hinein verändern ließen. Das kann ich mir in dieser aktuellen Bundesrepublik so nicht mehr vorstellen.

Besonders wichtig ist mir Folgendes:

Die Gesellschaft war sozialer, solidarischer und der allgemeine Zusammenhalt selbst von Menschen am jeweilig anderen Ende der Gesellschaftsskala einfach besser. Klar, es gab ab der Realität nach Aufbau- und Wirtschaftswunder auch die Arbeitslosigkeit, aber das war für den Einzelnen auch im fortgeschrittenen Alter kein unüberwindbares Schicksal wie heute, denn es gab noch Raum und Wahrnehmung für das, was jemand leisten und beitragen konnte.

Vor allem gab es in dieser Gesellschaft die notwendige unternehmerische bzw. gesellschaftlich gelittene Verantwortung für teilnehmende Menschen und nicht nur die jetzt übliche Gewinnmaximierung, welche (beginnend in der Produktion) global orientiert erst den Menschen links liegen lässt und irgendwann am Ende auch das Produzieren und Werte schaffenselbst, weil zunächst Finanzgeschäfte und schließlich diese irreale Scheinwirtschaft alles versprechen für angeblich mehr Rendite. Bis erst Gesellschaft und anschließend System und Wirtschaft implodieren. Wofür das alles? Für längst verlorene, aber verlogen immer weiter geheuchelte Werte.

Ich meine, Deutschland hat dieser weltweit einsetzende Effekt neben vielleicht den USA am Stärksten getroffen. Das wäre der alten Bundesrepublik dem Charakter nach nicht widerfahren.

Die frühere BRD war bis zum Schluss und auch über die damaligen Wirtschaftskrisen hinweg wahnsinnig erfolgreich. Das lag nicht zuletzt an der besonderen Konstruktion dieses Staates. Keine Altlasten in der Produktion, weil nach dem Krieg alles kaputt war; Hunderttausende oder Millionen von Flüchtlingen, die ein Leben neu aufzubauen hatten; nicht Schuldenschnitt – wie es heute heißt – aber Marshallplan, der mit zwar bescheidenen Mitteln, aber ganz von vorne und irgendwie unbelastet anfangen ließ, was den Erfolg erklärt, seine Nachhaltigkeit aber noch nicht begründet. Die besteht nämlich in der Leistung, sich innerhalb des Konglomerats der damaligen Ost-West-Welt als Gesellschaft über einige Jahrzehnte hinweg – zwar mit Schwierigkeiten – aber doch zusammen gefunden und definiert zu haben.

Auch das Innenpolitische zur alten BRD möchte ich allerdings nicht im Verdacht naiver Nostalgie abgehandelt wissen:

-      Das dumpfe ‚jetzt muss aber endlich Schluss sein mit der Vergangenheit‘ schon Anfang der 50er Jahre war weder angebracht noch segensreich.

-     Die Wiederbewaffnung (Bundeswehr – ich mag allein stehen mit dieser Meinung) 1957 war eine richtig verpasste Chance auf ein modernes Staatswesen ganz neuer Prägung. Diese Armee hat weder etwas bewirkt noch eine notwendige Rolle gespielt. Blauhelme wären auch im Rahmen von BGS-Einheiten vorstellbar gewesen. – Bitte stellt Euch die neue BRD-Geschichte nach 90 als Industriestaat ohne Bundeswehr vor. Da käme einiges an politischen Möglichkeiten zustande. Die BRD in der natürlichen und glaubwürdigen Rolle desjenigen, der vermittelt, ausgleicht und Kompromisse schafft. – Wer weiß? So ein Staat wäre vielleicht auch würdiger Kandidat für den Sicherheitsrat (nicht wahr Frau Merkel / Ironie!)

-     Der Umgang mit dem – man muss es heute so sagen – besonderen deutschen Terrorismus war gerade in der Frühphase politisch und von der Exekutive her nicht so schlau, denn es handelte sich zunächst ja gar nicht um Terrorismus.

Wären eigenes Fehlverhalten (öffentliche Eskalation/Gewalt/resolute Reaktionen) im Vorfeld besser bewertet worden, hätten hoffnungslos radikal orientierte Menschen wie Baader und Ennslin (und andere) niemals ihren Nährboden und die v.a. im Terrorjahr 77 wahnwitzig irregeleiteten Folgetäter finden können.

Mir persönlich gibt es seit jeher zu denken, dass eine intellektuelle und bekannte Journalistin wie Ulrike Meinhof (die übrigens niemals jemanden verletzte oder bombte oder mit Waffen gewalttätig wurde) in den terroristischen Untergrund (der Sprung aus dem Fenster ist bekannt) geriet, aber aus der Sache nie mehr herauskam, sondern zur Autorin der „Stadtgerilla“ und an anderer Schriften wurde.

-     Der Radikalen-Erlass und das verbundene Berufsverbot waren in der Tat keine Ruhmestaten der Republik. – Sie lernte aus den nicht segensreichen Ergebnissen, ohne dies freilich zuzugeben.

-     Ein Gesetzbuch, das im Kern irgendwo in der Zeit des letzten Kaisers stehen geblieben war, und – vorsichtig formuliert – mit der Entwicklung von Gesellschaft und System nicht mehr mitkam. Ein Zustand, in dem wir uns 20 Jahre nach der deutschen Einheit noch immer befinden.

Am Ende der damaligen Auseinandersetzung hatte die Bundesrepublik in ihrer Gesellschaftsentwicklung entscheidend profitiert, denn wichtige Verkrustungen aus der Zeit v.a. vor den Nazis wurden seinerzeit in den 80ern aufgebrochen (schon erwähnt: Grüne, Umwelt + Technologie, Friedensbewegung) und Deutschland als bisher eher konservatives Beharrungsland erstmals weltweit führend in einer neuen Gesellschaftsentwicklung.

Das Land profitiert davon noch jetzt, hat aber entsetzlich viele der möglichen Chancen verspielt, die nicht mehr wirklich aufzuholen sind. Ich könnte heulen …

Ein wenig umständlich erläutert vielleicht, aber ich hoffe doch, Ihr könnt es nun etwas besser nachvollziehen:

Ich habe mich in der ‚alten BRD‘ vor 1990 wohler gefühlt“.



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