Sonntag, 13. November 2011

Thema 7: Meine Erinnerung an den „deutschen Herbst“ (KW 45 / 2011)


Vor kurzem sah ich noch einmal den Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“ des zu Jahresbeginn verstorbenen Produzenten Bernd Eichingers. Gut gemacht – das ist nicht kommentieren – mit sehr überzeugenden Darstellern wie etwa Moritz Bleibtreu, Martina Gedeck und v.a. Bruno Ganz als BKA Chef oder so.

Allerdings dachte ich auch, dass man die Dramaturgie des Films eigentlich gar nicht richtig nachvollziehen kann, wenn man die Rahmenfakten nicht als Zeitzeuge schon kennen würde bzw. nicht mindestens das als Vorlage dienende Buch von Stefan Aust gelesen hat (ich hatte es vor über 20 Jahren in den Händen). Es hätte mich interessiert, ob mein 18jähriger Sohn die Handlung würde nachvollziehen können, aber solche Themen sind zumindest während dieser Periode nicht seine Sache und der Zweiteiler lief sehr spät am Abend.

Meine persönlich früheste Erinnerung an die RAF ist ein Witz, der im Zusammenhang der Namensähnlichkeit von Baader mit einem Versandhauskatalog kursierte. Ich kann ihn hier nicht mehr wiedergeben und verstand ihn auch nicht, denn ich war gerade mal Grundschüler. Es muss zeitlich ungefähr ein Weilchen nach Ulrike Meinhofs Sprung aus dem Fenster gewesen sein (bei der Gefängnisbefreiung Baaders 1970), welcher symbolisch in die Zeitgeschichte für den Gang in den Untergrund eingegangen ist. Auf jeden Fall deutlich vor der Festnahme von Baader und Meinhof.

In der Folge aber nahm ich intensiv und verstärkt auch die Fahndungsplakate war, welche überall auftauchten. Öffentliche Gebäude, Häuserwände, Bushaltestellen, Türen von Ladengeschäften, überall. Ich bemerkte, wenn ein Name oder Gesicht hinzukam, wenn eines verschwand. Ich erinnere, dass ich zu verstehen versuchte, warum einzelne Fotos plötzlich durchgestrichen oder geschwärzt waren.

Das Olympia-Attentat 1972 registrierte ich nicht in diesem Zusammenhang, weil ich davon natürlich nichts wusste. Ich erinnere jedoch sehr intensiv die Siegersprünge von Ulrike Meyfharth (erst 16 oder 17), deren Namensähnlichkeit zu Ulrike Meinhof ich als Kind erst einmal verwechselte und von Heide Rosendahl, sowie auch den Ausnahmeschwimmer Mark Spitz (7 Goldmedaillen!). Alle diese Bilder sind aber für immer verknüpft mit den nur aus der Ferne zu sehenden Fernsehaufnahmen der sich auf dem Balkon im olympischen Dorf produzierenden palästinensischen Terroristen und dem späteren Hubschrauber-Blutbad auf dem Flugfeld Fürstenfeldbruck.

Ich erinnere mich später zwar nur ausschnitt-haft, aber intensiv an die Fernsehberichte mit Schlagwörtern wie „Hungerstreik“ und „Isolationsfolter“, auch an den Tod von Holger Meins, die Entführung von Peter Lorenz und so einiges mehr. Was ich als Kind so gar nicht einordnen konnte, waren die vielen Bekennernamen wie etwa „Bewegung 2. Juni“. War das jetzt RAF oder was war das? – Natürlich verstand ich auch sonst nicht, was da vorging. Niemand erklärte es mir. Entweder dem Kind gegenüber gewollt oder selbst unfähig zur Einordnung, ich bin da nicht entschieden.

Als ab irgendwann 1975/1976 Stammheim und die sogenannten „Stammheimer“ in den Mittelpunkt der RAF-Berichterstattung rückten, verfolgte ich das Geschehen bereits aufmerksamer und durchaus mit Ansätzen eigener Wertungseindrücke. Die Nachrichten zum RAF Prozess beschäftigten mich. Als Meinhof starb, fragte ich, wieso die sich plötzlich umgebracht haben soll und ob es nicht doch sein könne, dass sie umgebracht wurde. – Solche Theorien kamen zwar nicht in der Tagesschau, aber ich hatte es irgendwoher … keine Antwort.

Im Frühjahr und Sommer 1977 begann der deutsche Herbst schon einmal vorzudämmern. Aus meiner Sicht völlig neue Namen tauchten da auf und hatten sich in einer Weise radikalisiert, die eigentlich nichts mit dem Tun der RAF gemein hatte, das ich als damals 13jähriger bis dahin wahrgenommen hatte. Blanker Mord war das nämlich nicht. Ich erinnere dazu hitzige Schulhofs- und Klassendiskussionen. – Ich weiß nicht, ob in mir zuvor eine gewisse Sympathie für vielleicht einen Kampf gegen das System oder seine Zustände gewesen ist, vielleicht eben ein inneres Grundverständnis für das Recht, sich zu wehren. – Die Morde an Buback und Ponto jedenfalls, welche mir als Personen bis dahin völlig unbekannt (ich war 13) waren, registrierte ich erstmalig in meinem Leben mit Abscheu und als Barbarei! Die spezielle und angeblich zunächst unbedarfte Geschichte von Susanne Albrecht (befreundet mit der Familie Ponto) widerte mich an.

Dann kam er, der deutsche Herbst! Brutal und unbarmherzig. Die Schleyer- und Landshut-Entführung mit dem Ende von glücklicher Befreiung, Ermordung und anschließendem Selbstmord in Stammheim kennt jeder. Aber das Geschehen damals griff auch in das Leben eines jeden einzelnen von uns ein. Kontrollen und Polizei mit dabei bis an die Zähne bewaffneten MPs überall und omnipräsent. Ich kann überhaupt nicht zählen, wie viel aggressives Auftreten der Staatsmacht ich damals rund um Saarbrücken sah, wo meine Familie in der Nähe lebte. Einmal wurde sogar der Bus durchkämmt, der mich zur Schule in die Stadt brachte. Von Männern mit kugelsicherer Weste und Maschinengewehr quer vor der Brust.

Die Nachrichten zur Entführung von Schleyer beherrschten wochenlang alles öffentliche Geschehen. Vormittags in der Schule, abends auch noch zu Hause. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich bilde mir ein, dass diese furchtbare Fahndungspanne mit der Wohnung, in der es dieses Kabuff mit den Lebenszeichen und Bildern von Schleyer gab, bereits so als Panne bekannt wurde, während die Entführung noch mitten im Gange war. Man hatte konkrete Hinweise – wie im Film dargestellt – bürokratisch einfach untergehen lassen.

Dann kam die Landshut-Entführung dazu. So ein Wahnsinn! Und man bekam es regelrecht am eigenen Leib mit der Angst zu tun. Es konnte jeden und auch einen selber treffen. Das begriff ich anhand dieses Geschehens auch als 13jähriger mit dem ganzen Fahndungsirrsinn vor der eigenen Haustür (zur Erklärung: wir lebten mitten in einem speziellen Fahndungsschwerpunkt. Das Saarland war in jenen Jahren so etwas wie ein Rückzugsraum mit z.B. Zahnärzten der RAF-Szene gewesen und aufgrund seines sogenannten „kleinen Grenzverkehrs“ auch ein Ort zum Verlassen und Betreten der damaligen BRD).

Ich verfolgte die Entführung jeden Tag. Der Stern brachte einen mit Grafiken (hier: Der Spiegel)vom Flugzeug und der Situation darin detaillierten Artikel, zusammen mit einer Homestory – wie man heute sagen würde – des Flugkapitäns Schumann. Als genau dieser Mann dann in Aden erschossen wurde, war ich regelrecht geschockt. Ich erinnere mich. Dass das Flugzeug damals gar nicht auf der Landebahn gelandet war, sondern daneben mitten im Wüstensand und der Ausstieg des Kapitäns in erster Linie mit dieser Tatsache zu tun hatten, war in der Berichterstattung damals noch nicht bekannt. Der Mann versuchte den zuständigen Kommandeur der Jemeniten, Scheich Ahmed Mansur, erfolglos davon zu überzeugen, das schwer beschädigte Flugzeug nicht mehr starten zu lassen.
Nicht nur dass die Terroristen glaubten, der damalige Südjemen wäre auf ihrer Seite, die Handelnden dieses Staates haben nach der Entscheidung mit dieser Entführung nichts zu tun haben zu wollen, auch eine Kette an weiter unglücklichen Maßnahmen getroffen. Jürgen Schumann kostete dies das Leben, obwohl es natürlich Mahmud war, der ihn regelrecht hinrichtete und wie einen nassen Sack aus dem Flugzeug werfen ließ (in Mogadischu). Ich werde diese Bilder nie vergessen.

Die Landshut startete aufgetankt wieder, obwohl die Triebwerke voller Sand waren und kaum noch ein technisches Gerät richtig funktionierte (Man wusste etwas über ausgefallene Klimaanlage, aber nichts über die anderen Probleme). Dass die Maschine überhaupt abhob und in Mogadischu sicher wieder landen konnte, ist ein kleines flugtechnisches Miraculum wie etwa die glückliche Landung jenes Airbus auf dem Hudson River in 2010.

Wir bekamen all das in den Nachrichten jetzt nicht mehr richtig mit. Mogadischu war nur eine weitere  Station des Dramas. Die Bilder vom Tod des Piloten beherrschten zunächst alles. Erst gab es nachrichtenmäßig Vermutungen, dann wurde die Leiche über Bord geworfen. Widerlich.

Die Zeitschrift „Stern“ war auch zu jener Zeit bekannt für seine Fotoserien mit bescheiden viel Text als Informationsbeigabe. Dazu Doppelseiten mit damals geschickt gemachter Grafik, welche komplexere Vorgänge auf einem Bild zusammenfassten. So auch in der Ausgabe jener Woche, welche die Ereignisse der Landshut-Entführung im Kontext zu Schleyer und den in Stammheim Inhaftierten darstellte. Das Special über den Flugkapitän Jürgen Schuman schilderte ihn als positiven, erfahrenen Mann, der im Begriff sei, demnächst auf die großen Jumboflieger (Airbus gab es noch nicht) und Langstrecken umzusteigen. Gruseligerweise wurde sein Tod gerade zu der Zeit bekannt, da ich das las.

Die Nachricht der Geiselbefreiung – übrigens die Erfolgreichste, die es in vergleichbarer Sache bis auf den heutigen Tag gegeben hat – erreichte mich zum Frühstück noch im Dunkeln. Niemand konnte fassen, dass weder die Geiseln noch ihre Befreier ernsthaft zu Schaden gekommen waren, nur die Geiselnehmer waren bis auf eine Frau tot.




Gleichzeitig meldeten die Nachrichten (Radio) aber auch Tote in Stammheim. Die Meldung war nicht so richtig klar und bestätigt. Ich hatte Probleme mit dem Zusammenhang. Im Schulbus oder der Schule an diesem Tag sagte und hörte ich mehrfach, dass der Schleyer jetzt wahrscheinlich auch tot sein würde. Das Bild mit der Leiche im Kofferraum überraschte mich nicht mehr, aber schockte mich dennoch erneut.

Damit war der deutsche an seinem blutigen Ende angekommen. Ich fragte mich, ob es das nächste Mal noch schlimmer werden würde und was dann wohl passieren würde? Es kam erst einmal nichts wirklich Schlimmes mehr. Die Eskalation 1977 hatte beide Seiten bis an den Rand des Äußersten gedrückt. Ich erinnere mich nicht deutlich. Nur noch kleinere Überfälle, Beschaffungskriminalität für den Untergrund, das momenthafte Auf- und Abtauchen gesuchter Personen, der missglückte Anschlag auf Alexander Haig ein paar Jahre später, das war zunächst einmal alles. – Ich wuchs in diesen Jahren pubertierend in das eigene politische und gesellschaftliche Bewusstsein hinein, ging zu Biermann und Liedermachern ins Konzert, marschierte bei Demos mit, insbesondere zum Thema Frieden. Mein Eindruck von der RAF damals nach 77 war der, dass diese Leute völlig ihre Botschaft und Ziele aus den Augen verloren hatten bzw. sich nur noch in einem verhängnisvollen Kreislauf zwischen Untergrund, Gewalt und Selbstzweck befanden. Bestenfalls Gefangenenbefreiung, keine Erklärungen und Forderungen mehr zu Veränderung von Staat und System. Dazu komplett an der Gesellschaft und den Menschen, also dem Volk, für das sie ja zu kämpfen glaubten, vorbei.

Es war so viel Bewegung da, alles war kreativ und engagiert. Ökologie, Frieden, die neue-Frau-Mann-Kiste, und, und, und – ein ganzes Stück Gesellschaft war in Bewegung und die RAF nur noch geächtet im Abseits, im Untergrund und weg von allem, wofür diese Menschen sich einst ja hatten einsetzen wollen.

Für den Staat selbst war es nach den dramatischen Tagen im Oktober 1977 noch längst nicht vorbei. Die Jagd begann von Neuem. Rasterfahndung, wieder bis an die Zähne bewaffnete Kontrollen und Straßensperren. Man sprach von der „2. Generation“, die Staatsfeine Nr. 1 hießen nun Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar!






So richtig Erfolg hatte die aufwendige, in das Leben der Menschen eingreifende Fahndung nicht. Erst Jahre später, als der Druck nachgelassen hatte, passierte mit der Unvorsichtigkeit der Gesuchten das Unvermeidliche. Sie wurden Anfang der 80er Jahre einer nach dem anderen gefasst oder waren in der DDR und anderen Orten weggetaucht, bis in den 90er Jahren sich auch diese Verstecke nach der sogenannten Wende in Luft auflösten.



Zur Verdeutlichung wie das damals war: 1978 geriet meine ältere Schwester in eine solche Kontrolle und in den Verdacht, die berüchtigte Terroristin Adelheid Schulz zu sein. Eine gewisse äußere Ähnlichkeit war unbestreitbar. Bis zur zweifelsfreien Klärung ihrer Identität wurde sie mit Maschinenpistolen in Schach gehalten. Wahnsinn, oder?!






Soweit also das eigene Erinnern eines Kindes an diese Jahre des deutschen Terrors, der sich –historisch betrachtet – von anderen Terrorgruppen und Vereinigungen stark in Entstehung und Inhalten unterschieden hat.

Es gab noch eine dritte und angeblich auch vierte Generation, es gab v.a. noch die Morde an Herrhausen und Rohwedder, aber jene absurde Geschichte, den Staat aus dem Untergrund heraus mit Anschlägen bekämpfen zu wollen, war vorbei. Endgültig. Der Glaube daran die Zustimmung und Unterstützung durch Teile der Bevölkerung zu haben, war irreal und auf schlimme Weise fatal, denn gerade diese letzten Attentate gegen die Deutsche Bank und Treuhand Chefs sollten ja wohl dies in Bewegung setzen. Wie weltfremd!

Das Geschehen und die Fakten zur RAF sind weitgehend bekannt. Nur vereinzelte Puzzle-Stücke blieben bis heute im Dunkeln. Wer genau schoss von diesem Motorrad aus auf Buback? Wer tötete Schleyer? – Diese Dinge sind insbesondere für die Hinterbliebenen der Opfer eine Zumutung. Man mag über das öffentliche, fast ein wenig populistische Vorgehen eines Michael Buback geteilter Meinung sein, aber eines ist doch mal sicher:

die Opfer haben ein verdammtes, unverbrüchlich moralisches Recht auf die Wahrheit!

Schlimm, dass man den sich vom Terrorismus mittlerweile distanzierenden Tätern auch nach Jahrzehnten bis auf den heutigen Tag eigentlich kein Wort glauben kann.

Und nun?

Es wären da aber doch noch ein paar Worte in Richtung von Bewertungen und Einsichten über das Geschehen rund um den deutschen Herbst zu sagen.

Helmut Schmidt hat sich ja ausführlich zu der Situation und seiner Haltung geäußert, … auch in Sachen Einsamkeit der unfassbar harten Entscheidung über möglicherweise Leben und Tod. Uns allen bekannt sind das Schriftstück, das den Staat auffordert, im Falle seiner Entführung (und seiner Frau Loki) nicht nachzugeben. Ebenso der bereits vorbereitete Rücktritt bei missglückter Geiselbefreiung in Mogadischu.

Hätte es aber soweit bis zum deutschen Herbst hin überhaupt kommen müssen? Gab es für den Staat im Umgang mit diesen fehlgeleiteten Leuten, die sich über die Jahre immer mehr radikalisiert hatten, vielleicht nicht doch die ein oder andere Alternative?

Ich glaube eindeutig ja! Allerdings mit der Einschränkung, dass Einsichten mit zeitlichem Abstand das Wissen um die tatsächlichen Folgeereignisse mitberücksichtigen, welches den Entscheidungsträgern mitten im Geschehen allerdings nie zur Verfügung stand.

Richtig ist die historische Bewertung (u.a. Helmut Schmidt), dass die 1975 erfolgreiche Geiselbefreiung durch die Entführung von Peter Lorenz ein fataler Fehler war. So grausam es klingt: dieser Umstand ließ die Terroristen wahrscheinlich annehmen, dass es möglich sein könnte, mit maximaler Gewaltanwendung auch die in Stammheim Inhaftierten zu befreien. – Das alles ist eine furchbare Kausalkette.

Wir alle – glaube ich – sind einer Meinung, dass der Staat an dem Punkt, der 1977 gekommen war, nicht mehr nachgeben durfte. So schrecklich das auch werden würde und dann ja auch wurde …

Aber, frage ich dennoch, wie konnte es nur passieren, dass man als Staat auf der einen Seite Geiseln aus einem Flugzeug extrem professionell befreite, am nächsten Morgen aber andererseits die Inhaftierten desselben Staates tot in ihren Zellen liegen, … was dem entführten Hanns-Martin Schleyer logischerweise jede Chance auf sein Überleben nahm??

Selbst zusammengebastelte Rundfunkempfänger, im Plattenspieler versteckte Pistole, geschmuggelte Papiere aller Art, simpelste Verständigung über Rohrleitungen, Stromkabel und/oder Belüftungssysteme und anderes!? – Mich hat immer gestört, dass man diese Verantwortung des Staates nie adäquat diskutiert hat bzw. nie das Versagen in der Verantwortung auf höherer Regierungsebene öffentlich angebracht einräumte. Auch Helmut Schmidt nicht, er spricht es zwar an, fühlt sich jedoch nicht mittelbar beteiligt.

Ich sehe das anders aus einer Reihe von Gründen. Es fängt viel früher bereits an:

Hätte man sich nicht spätestens schon 1970 Gedanken auch in eine ganz andere Richtung lenken müssen, als die bekannte Journalistin Ulrike Meinhof bei der Befreiung Baaders aus dem Fenster sprang und in den Untergrund ging? 

Man fahndete jetzt mit Plakaten und „Verbrecherstatements“ in den Medien, aber man „kommunizierte“ nicht. Diese Leute verstanden sich nun einmal nicht als Kriminelle! Vielleicht wieder einmal naiv gedacht, aber vom Staat und dem abgelehnten System her formulierte Angebote zu Alternativen und Perspektiven, um aus Illegalität und Untergrund wieder herauskommen zu können, hätten auch nicht geschadet. Spätestens bzgl. der damaligen Schriften der RAF (z.B. „Die Stadtguerilla“). Diese Dinge wären sehr gut und öffentlich leicht zerlegbar gewesen, weil daraus ja nichts anderes als Veranntheit triefte. Die in sich sowieso nicht sehr einige Gruppe wäre zu spalten gewesen und hätte sich im Untergrund möglicherweise nicht so extrem radikalisieren können.

Warum begegnete der Staat diesen Parolen von der „Isolationsfolter“ und „Vernichtungshaft“ damals nicht offener und vor allem auf politischer Ebene nicht mit einer ordentlichen Debatte zur Rechtsstaatlichkeit?

Ich vermute einfach mal, dass es der menschlich angefressene Effekt des prinzipientreuen Starrsinns war; Terroristen sollten dem Staat weder Handlungen noch Erläuterungen vorschreiben dürfen. Leider brachte diese Phase dem sogenannten harten Kern viel Zulauf aus der potentiellen Unterstützerszene am extrem linken Rand der Gesellschaft ein, wenn man das überhaupt links nennen darf (widerstrebt mir persönlich).

Mit ein wenig Selbstüberwindung wäre viel Wind aus den Segeln jener Radikalisierung zu nehmen gewesen. Die Kritik geht deutlich auch an die Administration Brandt, die – schon ein wenig seltsam – politisch und auch technisch nicht wirklich verstand, was da anschwoll. Hätte man nicht vor dem Hintergrund der Bewegungen ab ca. 65 und den ganzen bis dahin gemachten Erfahrungen längst Strömungen und Entwicklungen einordnen und bewerten können müssen? Brandt selbst konnte oder wollte es nicht komplexer wahrnehmen; er fühlte sich persönlich verletzt, dass gerade sein Regierungsprojekt von dieser damals neuen Art Linke (APO etc.) derart angegriffen wurde. Ich jedenfalls entnehme dies seinen Schriften zwischen den Zeilen.
 
Wieso blieb der Justizvollzug beziehungsweise die verschiedenen Maßnahmen bzgl. der RAF Häftlinge bis zum deutschen Herbst hin eine derartige Katastrophe?
Diese Frage ist im Grunde sogar beschönigend formuliert, eigentlich geht es um regelrechten Dilettantismus. Verzeihung, ich will niemandem zu nahe treten und sehe auch, dass das im Täglichen zum Beispiel für die Wachleute nicht einfach gewesen sein kann. Dennoch muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass über 5 Jahre hinweg doch ziemlich viele Dinge schief gegangen sind. Zunächst der wichtigste Widerspruch: der Staat bestand zu Recht darauf, dass es hier nicht um „politische Gefangene“ gehe, sondern um kriminell handelnde Menschen. Dann aber muss mit solchen Häftlingen verfahren werden, wie mit allen anderen auch. In der einen (Kommunikationssperre / Isolierung von gewöhnlichen Häftlingen) wie der anderen Richtung (merkwürdige Vergünstigungen / Sonderbau in Stammheim) war das zu verschiedenen Phasen nie der Fall.

Die Art und Weise des Umgangs mit dem Fall Holger Meins (Zwangsmaßnahmen / medizinische Versorgung etc.) hat es irgendwo der Szene draußen leicht gemacht, Mord zu propagieren und Rache zu schreien. Nachgerade, als hätte man dem Terror in die Hände gearbeitet. Psychologen, Profiler, speziell geschulte Beamte und auch Ärzte, all das wäre von Nöten gewesen.

Der zusammen gefasste Stammheim Prozess lieferte eine Bühne und ein Forum für die Szene, die eher befeuerte als Recht abhandelte. Zudem machte die Justiz eine nicht eben glückliche Figur im Umgang mit der provokanten Art der Angeklagten. Will sagen, sie war mit der Sache überfordert und verstand von der Leitung des Prozesses her schon einmal nicht, dass diese Menschen das System unseres Staates als solchem bzw. wie er existierend handelte ablehnten. Auch erkannten sie nicht die Autorität des Gerichts über ihre Taten an. Ich kann das nicht wirklich beurteilen, nehme aber an, dass der Prozess mit den falschen Personalien besetzt worden war. Auch wieder nicht klug.

Ist das Klima und die Kommunikation unter den Stammheim-Häftlingen jemals oder auch nur ernsthaft kompetent beobachtet, untersucht oder bewertet worden?
Die Ausgrenzung, Isolierung und Depression von Ulrike Meinhof hätte doch bemerkt werden müssen. So schwer kann das nicht gewesen sein; Personen in Kontakt mit ihr, die Kinder (auf freilich verwirrende Briefweise) etc. bekamen es jedenfalls mit und machten auf die Gefahren aufmerksam. – Ich kann nur schwer nachvollziehen, wie eine ganze Kette zuständiger Menschen so ignorant sein konnte bzw. die sich bietenden und angezeigten Möglichkeiten für den ganzen Terrorkomplex einfach nicht wahrnahm.

Mit einer Ulrike Meinhof im wieder aufgenommenen Dialog hätte sich im Rahmen der Szene viel bewegen lassen. Wenn der Staat – über welchen ausgewählten Kanal auch immer – mit jemandem hätte kommunizieren können, dann war es Ulrike Meinhof. Ich will das nicht naiv vortragen, vieles spricht dafür, dass sie keinesfalls zur „Verräterin an der Sache“ (wie z.B. Ensslin ihr während des Prozesses wohl unterstellte) werden wollte, aber einen ihr akzeptablen Strohhalm hätte sie wohl ergriffen. Auch dafür spricht einiges.
 
Ich kann mir ganz gut vorstellen, dass es den deutschen Herbst vielleicht gar nicht hätte zu geben brauchen mit einer Gefangenen Ulrike Meinhof, die man z.B. kontrolliert hätte publizieren lassen können (keine Gewaltaufrufe, sondern Thesen, Ideen etc.). Voraussetzung wäre natürlich gewesen, dass man die Entfremdung gegenüber den anderen und die Not der Frau erkannt hätte.
 
Nur eine von alles in allem bestimmt vielen Handlungsperspektiven des Staates damals. Draußen in der Szene hätte so etwas möglicherweise Konstellationen verändern können. Das weiß man heute, weil die Sache sich längst im Kreis drehte und die Situation der inhaftierten „Vorbilder“ der Stammheim-Häftlinge im Focus der kommenden zweiten Generation stand.
 
Last, not least die sogenannte Todesnacht von Stammheim! Wie kann es denn so wahnsinnig in einem der spektakulärsten Gefängnisse jener Zeit zu einem solchen Geschehen und Totalversagen des Justizvollzugs kommen?
Ich bin echt kein Anhänger von geheim-dienstlichen Mordtheorien, wie sie zumindest damals der spätere Bundesinnenminister Otto Schily als Anwalt von Ensslin vermutete, aber das Versagen der Justizvollzugs-behörden dort in Stammheim ist in dieser Sache ebenso vollständig wie auch unver-ständlich. Und: Es kostete Schleyer unwiederbringlich das Leben; nicht der Staat brachte ihn um, aber es war die in der Eskalation des deutschen Herbstes logische Mordfolge.

Man weiß heute, wie die Waffen, elektronischen Teile, Sprengstoff, Nachrichten etc. pp. über Aktenortner während des Prozesses in die JVA gelangten, aber man möchte sich auch gleichzeitig an den Kopf langen, so hollywoodhaft ist diese Geschichte. Stellt Euch nur mal vor: ein Ordner mit einer ganzen Pistole darin, und Du merkst beim Durchblättern nicht, dass die Seiten nach innen hin zusammenkleben. Nicht nur einmal nicht, sondern vielfach und über lange Zeit (2 Jahre) hinweg! Das ist extrem merkwürdig in einer JVA mit der damals weltweit vielleicht höchsten Aufmerksamkeit. – Ich neige, wie gesagt, nicht zum Kolportieren von Verschwörungstheorien, sondern eher zur schlechten Ausbildung von Beamten, zu fehlendem Profiling und beobachtender Psychologie als Beratung, zu überheblichem Verhalten in Staatsuniform und zu naiver Inkompetenz gegenüber dessen, womit man es zu tun hatte.

Ich habe großen Respekt gegenüber der Administration Schmidt im Krisenverhalten während des deutschen Herbstes im September und Oktober 1977 (insbesondere dass der Bundeskanzler den Mut und die Fassung aufbrachte im Angesicht seiner notwendig harten Entscheidungen bei der Trauerfeier der Familie Schleyer öffentlich beobachtet gegenüberzutreten), aber ich kann auch nicht umhin erstens ganz deutlich zu kritisieren, dass das Umgehen der Bundesrepublik mit dem weltweit zugegeben sehr außergewöhnlichen Phänomen RAF bis etwas über den deutschen Herbst hinaus ein überwiegend ungeschicktes bis unglückliches gewesen ist, und zweitens mich riesig daran zu stören, dass die Umstände versagender Verantwortungen auf Seiten unserer Republik bis heute noch nicht richtig benannt und bewertet wurden.

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Vielleicht aber ist die ganze Geschichte mit Stand 2011 auch noch gar nicht zu Ende erzählt worden.

In sehr vielen Details und vielen Momenten steht die ganze Wahrheit durch ehemals beteiligte Terroristen noch weitestgehend aus. Nicht alle von ihnen werden das irgendwann auch mit ins Grab nehmen wollen. Damit rechne ich fest und erhoffe es mir für die Opferfamilien.

Ebenso haben Beteiligte auf der Seite des Staates im gleichen Zuge die Chance ihren sinnvollen Beitrag zu Geschichte und Gesellschaftsfrieden zu erkennen und zu leisten. Vom Polizisten und Vollzugsbeamten über BKA und Fahndungsbeteiligte bis hin zu Staatssekretären, Geheimdienstlern, Krisenstabsmitgliedern und Altbundeskanzler Schmidt. – Es gäbe noch einiges auf den Tisch zu legen.

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