Mittwoch, 9. November 2011

Thema 6: Meine Generation der Wirtschaftswunder-Babyboomer (KW 45 / 2011)


Ich gehöre einem der stärksten Jahrgänge nach dem großen Krieg an. Das Phänomen ist bekannt. Nach Epidemien, Kriegen und ähnlichem werden zum z.B. besonders viele Jungs geboren, um das entstandene Missverhältnis wieder auszugleichen. Das war immer so in der Geschichte. Es ist schon ein Ding mit der Natur, wie macht sie das bloß? – Wahrscheinlich ist die biologische Antwort einfach, aber ich habe sie niemals irgendwo gehört bzw. im Hinterstübchen abgespeichert.

Na, jedenfalls bin ich gerade noch so ein solches Babyboomer-Kind, geboren knapp 20 Jahre nach jener vielleicht größten hausgemachten Katastrophe der Menschheit. Mit dem „Pillenknick“ nach 1965 war es dann wieder vorbei.

Das Mann-Frau-Verhältnis hat sich dennoch mit der Zeit wieder reguliert, was natürlich auch bedeutet, dass es in meiner Altersgruppe zumindest deutlich mehr Männer als Frauen gibt. Ein Problem, das vielleicht am Rand in die Inhalte dieses Artikels mit hinein spielt.

Meine Generation der heute 40+ bis ca. 55-Jährigen ist im Erwachsenenleben eine Gruppe der Halt- und Orientierungslosen geworden! – Dies ist meine These für diesen Text, welche ich als Überbreite im Durchschnitt zu anderen Generationsgruppen verstanden wissen will, natürlich nicht für jedermann und jederfrau. 

WARUM DIESE BEHAUPTUNG? – WAS SIND DIE FAKTOREN?

Meine Generation:

§  hat erkennbar ein Problem mit dem Sinn und den Zielen für das eigene Leben.

§  hat die allergrößten Schwierigkeiten damit, Werte richtig einzuordnen und nach Ihnen zu handeln.

§  kommt nicht klar mit den an Sie gestellten Herausforderungen in Beruf und Privatleben.

§  fällt überproportional in psychische Krisen wie Burnout und Depression.

§  kriegt das mit dem Ding zwischen Männern und Frauen überhaupt nicht mehr hin. Zerrissene Familien und verkrachte Existenzen sind die Folge.

Die Liste ließe sich im Detail um ein Ewiges verlängern. Ich beobachte rund um mich und mein Alter die verschiedensten Schwierigkeiten. Und alle erzählen sie natürlich eine ganz individuelle Geschichte.

Menschen, die niemals einen Partner fanden. Menschen, die scheitern und scheitern und wieder scheitern. Menschen, die lügen und im Grunde betrügen, ohne auch nur eine Idee davon zu haben, dass sie das tun. Viele Menschen, die aufgeben und sich ergeben in das, was einfach trudelnd mit ihnen geschieht. Menschen, die taumelnd von einer in die nächste Arbeit oder Beziehung fallen ohne jede Bindung. Menschen, die kein Mittel finden, um Scheitern oder Verlust von Arbeit, Familie, Freunden bewältigen zu können. – Auch dies ließe sich immer weiter fortführen.


Wer weiß, vielleicht ist es früheren Generationen auch so ergangen und sie fühlten sich im großen Mittel ebenfalls verloren. Bestimmt sogar, dennoch denke ich, dass in unseren Jahrgängen etwas Besonderes zusammenkam.

Versuch einer Interpretation

(1)
Unsere Eltern sind so plus/minus zwischen 1925 – 1945 geboren. Im Großen und Ganzen keine Kriegsteilnehmer mehr, aber Kinder jener Zeit und Jugendliche der Entbehrung bzw. junge Erwachsene von Aufbau und der Wirtschaftswunderzeit, zu der wir dann geboren wurden. Sie wuchsen ihrerseits auf in einer Wertewelt, die durch ihre Eltern noch aus der Kaiserzeit geprägt war (Kinder soll man sehen, aber nicht hören), und einer speziellen Gegenwart durch das System der Nazis, welches dazu nicht wirklich passte. Außerdem Krieg, möglicherweise Bombardements, Verlust naher Menschen (Eltern, Großeltern, Verwandte) und natürlich die zerstörte Welt und der Hunger am Ende.

Dann kam diese neue Sache aus Ost-West-Ideologie, Wirtschaftswunder und Entwicklungen, wie es sie in dieser Kürze nie zuvor gegeben hat. Heute wissen wir, dass der 2. Weltkrieg – so furchtbar er war – einen Technologiesprung auslöste, einzigartig in der Geschichte unserer Menschheit. Dieser Sprung hält noch immer an (schon wieder eine andere Geschichte für ein eigenes Thema), aber unsere Eltern hatten seinerzeit keine Ahnung und keine Wahrnehmung von alledem.

Sie verantworteten dies alles nicht, sondern waren mur diejenige Generation, die es mit ihrer Arbeit und Leistungsbereitschaft in der neuen Nachkriegswelt zu tragen hatte. Dieser Umstand prägte nun auch zentral ihr Leben. Wohlstand, definiert durch Auto, Haus, Garten, Elektrogeräte, Urlaub und dazu ein Sparsäckel. Im Leben alles erreicht mit der Arbeitsleistung und der erworbenen Rente, welche Nobbi Blüm nicht zuletzt für das Wohlfühlen unserer Eltern als „sicher“ deklarierte.
Vor dem Hintergrund ihrer Herkunft nahmen unsere Eltern das Erreichen dieses Wohlstandsbürgertums aus ihrer Sicht als erstrebenswert war. Sie waren älter als die 68er, deren „Aufstand“ sie nicht verstehen konnten, und jünger als diejenigen, welche in der alten oder neuen Welt verantwortlich mitmachten, … oder in beiden.

(2)
Wir wiederum wuchsen auf in einer Welt zunächst ohne Not und ohne Kummer. Im Gegenteil, wir begleiteten mit unserer Kindheit den wachsenden Wohlstand Schritt um Schritt. Wir erlebten den Boom und seine Kriselchen von der Vinylplatte und dem Tonband an über die Kompaktanlage, das Kassettenradio und den Walkman bis hin zum MP3-Player heute. – Viele andere Folgeketten lassen sich anführen.

Unsere Eltern boten uns materielle Sicherheit zu Hause und vom Sozialstaat her an, aber sie gaben uns keine Orientierung und kein Wertesystem mit, das in der Welt da draußen hätte funktionieren können. Sie bemerkten diesen Mangel nicht einmal, denn sie waren auf das Abarbeiten ihrer „Pflichten“ fixiert und im Schlichten stolz darauf, ihren Familien dies oder jenes bieten zu können. Es war ihr Weg durch die Widersprüche der Zeit, aus der sie selbst gekommen waren. Sie hatten die Wirtschaftswunderangebote dankbar angenommen und in besonderer Weise für sich zum Überleben verinnerlicht. Das Credo war möglichst nix zu hinterfragen. Ohne dass sie es richtig merkten hießen ihre Formeln:

„Damit ist man immer gut gefahren“.

„Jetzt muss endlich mal Schluss sein“ (Nazi-Vergangenheit, Gemeckere, alles …).

„Stell dich nicht so an“ (Indianer kennen bekanntlich ja keinen Schmerz).

„Basta“.

„Man muss nicht alles zerreden“.

UND, und, und … so einfach war das.

Ihr wisst sicher, wie ich das meine oder erinnert Euch sogar. ALLES EINE EINZIGE AUSFLUCHT, wenn man genauer hinschaut. Streit, Niederlagen, Trennung, Krankheit etc., nichts wurde geklärt, nichts wurde abgearbeitet. Stattdessen nach Möglichkeit immer sofort weiter machen wie bisher und bloß kein Wort darüber verlieren. Man könnte meinen, die Generation unserer Eltern hatte/hat nachgerade Panik davor, sich der Auseinandersetzung zu stellen. Wohl aus einer tief verborgen liegenden Angst heraus, dass alles wieder kaputt gehen könnte. Kein Bewusstsein, kein Zulassen der Hinterfragung. Nicht bei sich selbst, nicht bei anderen. – Viele Ehen waren nicht glücklich, sondern eher Zweckbündnisse. Man fügte sich in die Tatsachen und dachte eben, das Beste daraus zu machen.

Folge: Die Erziehungspädagogik unserer Eltern war eine Katastrophe! – So jetzt ist es raus. Scheltet mich dafür, aber ich seh’s trotzdem so.

Da bereiteten die Eltern zwar ein heimeliges Zuhause, aber kümmerten sich mitnichten um das innere Wohlergehen ihrer Kinder und darum, was für Menschen sie werden würden. Wurde es schwierig, setzte es was! Nur um anschließend sofort so zu tun, als sei gar nichts gewesen. Hilflosigkeit pur! Wenn außerhalb des Hauses etwas geschah, war ebenfalls Wegschauen oder Übergehen angesagt. Auch mit dem Investieren von direkter und individueller Zeit für uns Kinder war nicht viel los. Man wusste nicht wie, denn sie hatten das rund um den Krieg auch nicht erfahren.

Man machte Ausflüge und Urlaube, aber man begleitete seine Kinder nicht.

Bezeichnender Weise bestritten oder bestreiten unsere Eltern heute genau dies alles und je nachdem noch viel mehr. – Sie wissen es anscheinend nicht besser. Lebenslange Prägungsmuster!

(3)
Nun will ich die Wirrnisse und Zustände unserer Generation aber doch nicht einfach unseren Eltern in die Schuhe schieben. AUF KEINEN FALL. – Schließlich haben wir alle es individuell doch in der Hand Einsichten, Einflüsse und Faktoren selbst zu bewerten, um etwas aus uns zu machen. Hinweisen will ich nur darauf, dass die Umweltbedingungen für unser Erwachsenenleben halt ganz andere geworden waren, als diejenigen, welche unsere Eltern mehr oder weniger an der Hand durchs Leben führten. Kein Wirtschaftswunder mehr und keine aus heutiger Sicht „sanfte Ellenbogengesellschaft“, die anschließend kam, sondern Verdrängung und verschlingender Dschungel überall. Das ist vielleicht der wichtigste Umstand, warum wir trotz der z.B. materiell ordentlichen Ausgangslage durch unsere Eltern keine in sich stabile Generation geworden sind.

Alles hat sich in Rekordzeit verändert. Technologien, Wissen, Wirtschaft, politische Systeme, Bündnisse und Mächte in der Welt. Und das Tempo der Veränderung hält unverdrossen weiter an, legt an Geschwindigkeit sogar noch zu. Manches ist faszinierend, eröffnet neue Horizonte und einen Markt der Möglichkeiten. Anderes ist erschreckend, beklagenswert, furchteinflößend und sorgt für Frust, Resignation oder gar großes, neues Elend.
Logisch, dass auch die Gesellschaft, das Umgehen Miteinander, das Anwenden von Werten und die ganz persönlichen Herausforderungen von einer solchen Entwicklungswalze, wie wir sie andauernd erleben, nicht verschont bleiben: Partnerschaft, das Ringen um Job & Karriere gegen denjenigen, der es vielleicht sogar besser kann, die Verführungen von Konsum und Machtgeilheit, die zum Überleben suggerierte Abstumpfung gegen alles Empfindsame, Störende und sich evtl. in den Weg Stellende, kurzum die Forderung unserer Werte, Überzeugungen und Nachhaltigkeit.

Wir sind heute und jetzt eine Generation in der Verantwortung am Scheideweg global irrwitzig schnell und mitunter abenteuerlich agierender Veränderungen unserer gesamten Welt und wir kommen mit der Aufgabe nicht klar. Im gewaltigen Großen so wenig wie im individuell Kleinen. Wir sind überfordert und rundum nicht vorbereitet! – Ich finde, so deutlich muss man das auch mal sagen dürfen und sich eingestehen.


Wir stehen mit Stand 2011 gerade in der Mitte bis Hochverantwortung für diese Welt. Wenn aus der Zeit, in der wir am Ruder gewesen sein werden, noch etwas werden soll, dann sollte jetzt bis demnächst etwas mit Blick auf uns selbst und unser Tun geschehen.

Wenn man auf das was ich sage oder schreibe hörte, dann würde ich meiner Generation der ehemaligen Babyboomer zurufen, dass eine völlige Neubewertung von Standpunkten, Zielen sowie beruflichem & privatem Handeln hermuss. Ich würde sagen, dass wir jetzt auf die Reset-Taste drücken müssen und einen kompletten Neustart fordern, um vielleicht doch noch das aus uns zu machen, was wir eigentlich als Generation hätten sein können.

Mein Traum war es immer – und der ist so herrlich naiv – dass wir in der Welt richtig etwas bewegen und den Laden gründlich positiv umkrempeln würden. Eine kurze Periode lang erschien es mir in meinem Leben sogar so, als ginge das wirklich und ließen sich Dinge z.T. für viele auf wunderbare Weise bewegen und verändern, so dass es mir mit meiner Rolle darin selbst fast schon wieder unheimlich wurde. Z.B. Projekte für deren Erfolg Menschen an deinen Lippen hängen, oder Demos, zu denen man aufruft und Tausende kommen, was einem zeitweise richtig gehörten politischen Einfluss bescherte … (zu erzählen in einer anderen Geschichte).

Diesen Traum gibt es schon lange nicht mehr!

Keine Ahnung ob das repräsentativ ist, aber ich nehme um mich herum so viele verkrachte Existenzen wahr, dass man kaum an ein gesundes Gesellschaftswesen glauben kann. Wüsste ich nicht, dass es eine Kombination aus Altersgruppe und Milieuumgebung ist, würde ich glatt resignieren: Vollends gescheiterte und sich bekämpfende Familien als wäre es ein Krieg um alles und das letzte gemeinsame Geschirrhandtuch (sprich: Kohle und Kinder! Man darf auf den Zustand dieser kommenden Generation gespannt sein), einsame & alleinstehende Menschen, alleinerziehende Mütter (seltener Väter), Männer und Frauen mit nie einer festen Partnerschaft, in Beruf und Leben Gescheiterte, auffallend viele sogar gänzlich ohne Beruf und dann noch diese riesige Gruppe von Depressiven, Alkoholikern, Tablettenabhängigen etc. pp.

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Ich habe derzeit keine Ahnung, wie sich diese innere Generationentragödie im Strudel zusammen mit der Zeit, in der wir uns befinden, überhaupt noch auflösen ließe. Vielleicht lasse ich mit meiner Kraft in der Überzeugung für Lösungen und Wege ein wenig nach – obwohl das nicht meinem Wesen entspräche – denn ich sehe einfach nicht, dass wir noch die Power und die Werte mitbrächten, neben den eigenen Unzulänglichkeiten diesen aktuellen Irrsinn aus Gewalt, Terror, ethischen Fragestellungen, global-ökonomischem Finanz- und Wachstumswahnsinn, Raubbau & Ausbeutung von Ressourcen sowie Arbeit, Umwelt, Klima, Ernährung, Bildung, und, und, und konstruktiv zu bearbeiten.

Ich resigniere nicht, aber ich habe eben so ein bestimmtes Gefühl, Mitglied einer der am heftigsten überforderten Generationen zu sein, welche keine Lösungen bereit hält. Für das eigene Leben nicht und für die Phase der die Gesellschaft tragenden Gruppe nicht.

Was man im Persönlichen tun kann und tut, ist gut und wertvoll. Familie und Freunde positiv zu begleiten ist eine wichtige Sache. Sich auch im Kleinen im Rahmen von Umwelt und Gesellschaft zu engagieren ebenso. Ich meine immer, dass man das Wenige in Reichweite bewegen soll. Besser als nichts.

Das werte- und orientierungsmäßig bescheidene Dahintrudeln meiner Generation lässt sich nun, da wir bereits ein gesetztes Alter erreicht haben, nicht mehr wirklich korrigieren. Man kann nur alle Daumen drücken, dass diejenigen, die zwischen uns und unseren eigenen Kindern kommen – es handelt sich gewissermaßen um die Kids der 68er – mehr inneren Unterbau mitbringen werden.

Einiges spricht in meiner Wahrnehmung dafür. Das Leben geht sowieso weiter …

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